„Das Fachkonzept von WfbM muss realistisch und wasserdicht sein“

Fachkonzept WfbM
Montag, 29 März 2021 14:37

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat tiefgreifende Auswirkungen auf alle Angebote der Eingliederungshilfe, nicht nur auf die soziale Teilhabe. Auch die Teilhabe am Arbeitsleben soll in Zukunft auf Basis von Fachkonzepten personenzentriert ermöglicht werden. Das Fachkonzept wird damit auch für WfbM verbindlicher Teil der Leistungsvereinbarung. Wie gelingt der Wandel im Leistungsangebot von WfbM, was gilt es bei der Erstellung des Fachkonzepts für WfbM zu beachten und was macht zukünftig eine attraktive Werkstattleistung aus? Darüber haben wir mit Hubert Vornholt, Geschäftsführer des Franz Sales Haus, sowie mit Martin Weißenberg, Managementberater im Marktfeld für Unternehmen der Eingliederungshilfe bei contec, gesprochen.

Herr Vornholt, Herr Weißenberg, worin sehen Sie die größten Herausforderungen für WfbM durch das BTHG?

Weißenberg: Werkstätten sind aus ihrer Tradition heraus eher Beschäftigungsmöglichkeiten gewesen, die pauschal als Angebote angepasster Arbeit vorgehalten wurden. Zwar haben die meisten Werkstätten sich dahingehend in den letzten Jahren und Jahrzehnten besser aufgestellt, aber mit der Personenzentrierung muss man viel genauer auf die Bedarfe des Einzelnen achten. „Alten Wein in neue Schläuche“ zu gießen, reicht nicht aus. Im Prinzip erfordert das BTHG eine Organisationsentwicklung auf fachlicher, kultureller und betriebswirtschaftlicher Ebene – das ist immer eine Herausforderung, noch dazu mit einigermaßen zeitlichem Druck.

Hubert Vornholt

Hubert Vornholt
© Stefan Arend

Vornholt: Die Herausforderung liegt vor allem darin, dass das Thema der Personenzentrierung und was damit zusammenhängt – Bedarfsermittlung nach BEI_NRW bzw. den Instrumenten der entsprechenden Länder, Wirksamkeitsnachweis, Gesamtplanverfahren – für Werkstätten weitgehend neu ist. Wir müssen nicht nur unsere Art der Leistungserbringung fachlich neu aufstellen, sondern unsere Mitarbeitenden schulen, gleichzeitig unser Rechnungswesen auf den Prüfstand stellen und analog zur personenzentrierten Leistungserbringung auch personenzentriert dokumentieren. Das ist Werkstätten bisher fremd.

Wie gehen Sie die kulturellen und fachlichen Herausforderungen bei Ihnen in den Franz-Sales-Werkstätten an?

Vornholt: Wir gehen den Wandel strukturell auf allen Ebenen an. Für die Personenzentrierung braucht es eine neue Haltung bei den Mitarbeitenden, die Teil der Unternehmensstrategie und -philosophie sein muss – das ist die erste, die kulturelle Ebene. Dafür haben wir Arbeitskreise eingesetzt. Wir nehmen Mitarbeitende auf dem Weg mit, damit sie diese Haltung tatsächlich auch verinnerlichen. Allen muss klar sein, dass der Weg von einer kulturellen Haltung über die fachliche Definition unserer Leistungen bis zur der Frage danach, wie diese refinanziert werden können, geht.

Darauf aufbauend fördern wir die Methodenkompetenz unserer Mitarbeitenden. Sie brauchen das Handwerkszeug, um im Sinne der Teilhabe am Arbeitsleben, im Sinne von Rehabilitation und Förderung auf die Bedarfe unserer Beschäftigten einzugehen. Deshalb machen wir Fortbildungen, in denen unsere Mitarbeitenden und unsere Führungskräfte lernen, die neue Haltung der Personenzentrierung und Teilhabe auch in Förderkonzepten zu denken.

Auf fachlicher Ebene arbeiten wir an der Erstellung des Fachkonzepts für unsere WfbM – dort werden die Stränge der ersten beiden Säulen zusammengeführt und verschriftlicht. Hier definieren wir derzeit, was für Leistungen wir eigentlich jetzt schon anbieten, also wo es um eine reine Beschreibung geht, und wo wir neue Leistungen in unser Angebot aufnehmen müssen. Besonders wichtig ist mir, dass es auch juristisch wasserdicht ist, falls man einmal vor der Schiedsstelle landet oder wenn Leistungen eingeklagt werden. Gleichzeitig muss das Fachkonzept ein Abbild unserer Gewinn- und Verlustrechnung sein. Und, das ist an der Stelle wirklich existenziell, wir müssen unsere Ertragslage in den Fokus stellen. Es nützt mir nichts, ein Fachkonzept geschrieben zu haben, wenn ich nicht sagen kann, wie das Verbindungsglied zur Betriebswirtschaft aussieht. In letzter Konsequenz steht hinter meinem Fachkonzept, das ich dem Kostenträger anbiete, meine Forderung an Geld. Das muss ich betriebswirtschaftlich händeln können, sonst kann ich keine Leistungen kalkulieren.

Herr Weißenberg, das Thema Fachkonzept beschäftigt alle Leistungserbringer, weil es schließlich die Grundlage für die bevorstehenden Leistungsvergütungsverhandlungen sein wird. Haben Sie einen Tipp für das Fachkonzept von WfbM-Anbietern?

Weißenberg: Es ist sicher sinnvoll, das Fachkonzept aus der Praxis der WfbM heraus zu erstellen. Vor Ort weiß man viel besser als der Leistungsträger, welche Bedarfe bei den

Beschäftigten bestehen und mit welchen Leistungen darauf reagiert wird. Deshalb rate ich – wie Herr Vornholt auch gesagt hat – erst einmal genau hinzuschauen, welche Leistungen ich überhaupt schon erbringe und je besser ich die beschreiben kann, desto besser kann ich auch gegenüber dem Leistungsträger argumentieren. Außerdem sollte das Beschriebene realistisch sein. Die Unternehmensphilosophie niederzuschreiben, aber nicht auch bereits mit den Mitarbeitenden zu leben, bringt nichts. Erst recht habe ich nichts davon, Leistungen zu definieren, die ich gar nicht erbringen kann. Außerdem: Je besser man aufgestellt ist und je früher man anfängt, umso besser funktioniert der echte Umstellungsprozess.

Mit den neuen Anforderungen des Landesrahmenvertrags, mit dem Fachkonzept und auch mit dem Gesamtplanverfahren kommen außerdem ICF-basierte Hilfepläne in die Werkstatt und da wird sich die WfbM mit einer neuen Systematik befassen müssen.

Vornholt: Ja, das wird wohl so kommen, aber gleichzeitig hat sich die Werkstättenverordnung ja nicht geändert. Und die hat Werkstätten mit einem Eingangsverfahren ausgestattet, das vorsieht, innerhalb von drei Monaten einen Eingliederungsplan zu entwickeln, oder zumindest die Eckpfeiler davon. Da ist für mein Dafürhalten noch nicht sauber definiert, in welcher Beziehung dazu eigentlich das Gesamtplanverfahren des Kostenträgers steht. Beides weiterhin parallel laufen zu lassen kostet unwahrscheinlich viele Ressourcen und birgt die Gefahr, dass am Ende etwas ganz Schräges herauskommt oder im schlimmsten Fall sich widersprechende Pläne. Wenn es darum geht, das Richtige für den Menschen mit Behinderung zu tun und Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, dann brauchen wir eine gemeinsame Linie mit den Leistungsträgern.

Im Zuge der Inklusionsdebatte werden WfbM immer wieder als nicht inklusiv kritisiert. Wie wird sich der Blick auf WfbM durch das BTHG möglicherweise verändern? Und was wird in Zukunft eine attraktive Werkstatt(leistung) sein?

Vornholt: Teilhabe am Arbeitsleben wird mit dem BTHG noch einmal anders fokussiert. Über das Thema der Wirksamkeit im Landesrahmenvertrag werden ausgelagerte Arbeitsplätze und der Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt immer wichtiger. Gleichzeitig – wie im nordrhein-westfälischen Modell – brauchen wir aber auch Angebote für Menschen mit komplexen Behinderungen, brauchen wir einen geschützten Raum mit Förder- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Wir im Franz-Sales-Haus denken und organisieren – ausgehend vom Eingangsverfahren über den Berufsbildungsbereich bis hin zum Arbeitsbereich – immer beide Seiten, auch den Übergang mit.

Durch die Personenzentrierung bekommt außerdem das Wunsch- und Wahlrecht eine neue Bedeutung. Es rücken jetzt die Fragen in den Fokus, ob die Werkstatt die Bedarfe der Beschäftigten erkannt hat und deren Ziele ernst nimmt. Und wenn das Ziel ist, irgendwann mal auf dem freien Arbeitsmarkt zu arbeiten, dann muss eine Werkstatt auch klare Konzepte verfolgen, wie sie ihre Beschäftigten dahingehend fördert. Dabei bleibt die Frage unbeantwortet, ob der erste Arbeitsmarkt dem Menschen die Teilhabe ermöglicht – aber das ist eine andere Frage. Menschen mit Behinderung haben durch den Inklusions-Diskurs in den letzten ca. 15 Jahren eine andere Mündigkeit erlangt. Im Bereich Wohnen wird jetzt schon viel genauer hingeschaut, ob eine Einrichtung passt und das an individuellen Zielen ausgerichtet. Das wird in den Werkstätten jetzt auch zunehmen. Das heißt, eine Werkstatt muss das Zusammenspiel aus personenzentrierter Unternehmenskultur, personenzentriertem Leistungsangebot und ausreichend Arbeit für die Produktion meistern.

Sie haben es bereits gesagt: Es gibt immer Menschen, für die der geschützte Raum der Werkstatt nötig ist, und die nicht den Wunsch haben, auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln.  Wird es dann auch die Bandbreite an Leistungen sein, die eine Werkstatt attraktiv macht? Oder im Gegenteil eine Spezialisierung?

Vornholt: Wir haben ja bereits die Trennung zwischen Körper-, psychischer und geistiger Behinderung und das wird sich auch so schnell nicht auflösen, obwohl die Vermischung sich bereits verändert hat. Aber eine absolute Spezialisierung in den Werkstätten wird es m. E. nicht geben. Das wird an anderer Stelle passieren. Da kommen eher die anderen Leistungsanbieter ins Spiel, in Bezug auf berufliche Bildung, aber auch im Arbeitsbereich.

Die Spezialisierung der Werkstätten wird eher auf inhaltlicher Ebene stattfinden, also in den Modulen der neuen Leistungen. Dann wird es z. B. ein Modul für den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt geben. Die alleinige Frage darf aber nicht sein, wie ich um jeden Preis Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt bekomme, sondern wie der einzelne Mensch unabhängig von der Komplexität seiner Behinderung innerhalb der Werkstatt angenommen, gefördert und im Rahmen seiner Fähigkeiten begleitet wird. Wir brauchen also weiterhin ein breites Portfolio an Leistungen, die nur innerhalb ihrer Module spezialisiert sind.

Weißenberg: Das System zur Teilhabe am Arbeitsleben differenziert sich ja immer weiter aus: Inklusionsunternehmen, Außenarbeitsplätze, Budget für Arbeit und Ausbildung. WfbM müssen ihren Platz in diesem System neu definieren und sich darüber im Markt positionieren. Das geht natürlich besonders gut über funktionierende Module im Übergangsbereich, aber eben auch über die individuelle Förderung von Menschen ohne Ambitionen für den ersten Arbeitsmarkt. Hier gilt es, die Waage zu halten und gleichzeitig über die Produktion attraktive Arbeitsplätze vorzuhalten.

Stichwort Produktion: Eine WfbM hat ja vor allem einen Förderauftrag. Nichtsdestotrotz muss sie als wirtschaftliches Unternehmen auch wertschöpfen und braucht eine funktionierende Produktion oder Dienstleistung. Wie wirkt sich das BTHG auf dieses Spannungsfeld aus?

Vornholt: Es muss eine deutliche Verschränkung des Produktionsteils und des Reha-Teils geben. Das eine kann ohne das andere nicht funktionieren. Diese beiden Stränge, die eben eigentlich eins sind, miteinander zu verweben, ist aber nicht einfach, denn in der Werkstatt-Kultur von heute herrscht zu einem Teil pädagogisches und zum anderen Teil Arbeitsmarktdenken. Ein Gruppenleiter muss sich aber genauso als Begleiter von Menschen mit Behinderung im Sinne der Teilhabe am Arbeitsleben verstehen, wie er gleichzeitig im Sinne der Produktion denken muss, wenn ein Auftrag bis morgen fertig sein muss. Wenn es WfbM jetzt nicht gelingt, dies übereinzubringen, dann überwiegt eine Seite, und dann gehe ich entweder im Arbeitsergebnis bankrott oder ich habe nicht die richtigen Angebote für die Menschen mit Behinderung. Da müssen wir ran, da ist das BTHG ziemlich eindeutig, auch für die Werkstätten.

Und wo liegt die Herausforderung?

Vornholt: Wenn man es genau nimmt, stehen wir uns mit diesem „Zwei-Stränge-Denken“ selbst im Weg. Wenn man die Abläufe und die Unternehmensphilosophie aber gut organisiert und unter diesen beiden Parametern lebt, dann brauchen wir solche Diskussionen gar nicht zu führen, dann ist das die Unternehmensphilosophie. Wenn das Aushängeschild einer Werkstatt „Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung“ heißt, dann widerspricht weder der Produktionsgedanke diesem Grundsatz noch der Reha-Ansatz. Teilhabe am Arbeitsleben heißt schließlich auch Arbeiten, heißt Geldverdienen, heißt aber unter Umständen auch, dass jemand Unterstützung braucht, um bestimmte Dinge verrichten zu können. Im Prinzip nichts anderes als in jedem anderen Unternehmen auch mit dem Unterschied, dass WfbM jetzt noch mal genauer hinschauen müssen, wo eigentlich das Geld verdient wird. Wenn wir ehrlich sind, reicht das, was wir in der Produktion erwirtschaften niemals an die Umsätze aus dem Erstattungsbereich heran. Und um die Stränge richtig miteinander zu verschränken, lohnt es sich, dorthin zu schauen.

Weißenberg: Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, nämlich dass das Thema eines vermeintlichen Spannungsfeldes vor allem auch von den Mitarbeitenden, den Gruppenleitungen in den Werkstätten sehr kontrovers gesehen wird. Ich sehe da vor allem eine Personalentwicklungsfrage, um diesen Kulturwandel voranzutreiben, den Herr Vornholt beschrieben hat. In einem neuen System der Eingliederungshilfe, in dem auch die Löhne der Werkstattbeschäftigten steigen und erwirtschaftet werden müssen, muss es auch erlaubt sein, beide Aspekte einer WfbM, den Reha-Auftrag sowie die Notwendigkeit des unternehmerischen Denkens, gemeinsam zu betrachten und nicht einen Auftrag dem anderen unterzuordnen. Und damit schließt sich der Kreis zur Organisationsentwicklung: Dafür braucht es einen kulturellen Wandel in der Unternehmensphilosophie, die Entwicklung des Personals mit Blick auf die Sensibilisierung für pädagogische und kaufmännische Belange sowie eine stabile wirtschaftliche Lage durch ausreichend Aufträge, aber auch oder vor allem ein voll refinanzierbares Leistungsangebot im Rahmen der Rehabilitation.

Vielen Dank, Ihnen beiden, für das Gespräch!

Martin Weißenberg

Fachkonzept WfbM

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