Buurtzorg: Das niederländische Modell im Praxischeck

Buurtzorg
Freitag, 27 Juli 2018 13:22

Die Anforderungen an die professionelle Pflege entwickeln sich ständig weiter – immer mehr Träger fragen sich, ob dieser Wandel mit den derzeitigen Konzepten zur Pflegeorganisation beantwortet werden kann. Buurtzorg unterscheidet sich fundamental von den in Deutschland praktizierten Grundsätzen der Pflegeorganisation. Hohe Eigenverantwortung, Entscheidungskompetenz und Augenhöhe bilden die Grundlage von selbstorganisierten Pflegeteams. Gunnar Sander, Geschäftsführer der Sander Pflege GmbH, will das innovative Buurtzorg-Modell, das bereits jetzt in aller Munde ist, nach Deutschland bringen. Steht auch in Deutschland die ambulante Pflege vor einem Umbruch?

Da sich im heutigen Pflegesystem bei Leitungen wie Fachkräften immer weiter der Frust ausbreite, seien vor allem soziale Innovationen gefragt, erklärt Detlef Friedrich, Geschäftsführer der contec GmbH. Er fordert daher Mut zu neuen Ideen und deren Umsetzung, ohne immer nur auf den Gesetzgeber zu schielen. So wie Apple mit dem iPhone die Handy-Branche revolutioniert hat, so könne man auch das Verdienst des Niederländers Jos de Blok, Gründer von Buurtzorg, für die Pflegebranche beschreiben. „Er ist der Steve Jobs der ambulanten Pflege“, so Friedrich.

Das Buurtzorg-Modell gibt den Mitarbeitenden wieder mehr Autonomie, indem es die Pflege und die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt des Handelns der Mitarbeitenden stellt. Hierdurch entsteht neue Motivation. Dies zeigt der Erfolg in den Niederlanden, der jedoch auch mehrere Jahre gebraucht hat, um zu überzeugen: Die Pflegenden haben letztlich ‚mit den Füßen abgestimmt‘, sodass heute 10.000 Mitarbeitende in der ambulanten Pflege bei Buurtzorg arbeiten. Friedrich: „Es ist an der Zeit, dass die Branche selbst das Zepter in die Hand nimmt und mutig, in Kooperation mit den Kostenträgern, vorangeht und nicht erst auf gesetzgeberische Initiativen wartet, um Veränderungen herbeizuführen“.

Selbstwirksamkeit durch autarke Teams, Verzicht auf Hierarchien und zufriedene Mitarbeitende

In den Niederlanden hat das 2007 von Jos de Blok gegründete Modell mittlerweile einen Marktanteil von über 40 Prozent und ist somit flächendeckend im Einsatz. Wiederkehrend wird Buurtzorg seit Jahren als bester Arbeitgeber gewählt. Buurtzorg zeichnet sich dadurch aus, dass es ausschließlich aus autark organisierten Pflegeteams besteht, die auch innerhalb der eigenen Reihen ohne Leitungsposition in einem Rollenmodell arbeiten. Jedes Teammitglied, ob Fachkraft oder Pflegehelfer*in, hat dasselbe Mitspracherecht. Die wesentliche Botschaft lautet: Es kommt nicht auf die Qualifikation an. Sich selbst zu organisieren und einen guten Job machen zu wollen, ist eine menschliche Eigenschaft. Mit Blick auf mögliche Probleme durch die fehlende Führung sagt Gunnar Sander, Buurtzorg-Pionier in Deutschland: „Das Funktionieren eines so freiheitlich organisierten Teams setzt ein hohes Maß an Vertrauen voraus – in die Mitarbeitenden sowie in die Menschen überhaupt“.

Natürlich gibt es Ziele, die den Rahmen bilden – drei Prozent Umsatzrendite sind zu erwirtschaften und eine sechzigprozentige Auslastung zu erreichen. „Da die Teams selbst für die Finanzen zuständig sind, ist es überhaupt nicht in ihrem Interesse, willkürlich und unwirtschaftlich zu handeln.“ Ein Punkt, der kritisch diskutiert werden sollte, ist allerdings die potenzielle Gefahr der Selbstausbeutung. Sander verweist hier auf den jeweiligen Aushandlungsprozess mit den Kunden und das unterstützende Hilfesystem. Es können kreative Lösungen gefunden werden, wenn es einmal eng wird. Neben der Möglichkeit, dass Teams sich untereinander aushelfen, wird derzeit in den Niederlanden auch an einem Springer-Pool gearbeitet, wenn es zu personellen Engpässen kommt.

Buurtzorg, so lassen sich Branchenreaktionen beschreiben, ist nicht nur die Umstellung eines Systems, es ist eine Mentalitätsfrage. Manche zweifeln daran, dass das Modell funktioniert. Wollen Pflegekräfte wirklich zusätzlich die Tourenplanung, das Kassenbuch und Vorstellungsgespräche übernehmen? Doch Sander ist überzeugt: „Gerade die junge Generation möchte mehr Mitspracherecht und Verantwortung haben. Außerdem ist die Arbeitszeitaufteilung klar untergliedert: 60 Prozent abrechenbare Pflege und Arbeit am Menschen, 22 Prozent Fahrt- und Rüstzeiten, Teambesprechungen, Organisation und Netzwerkarbeit sowie 18 Prozent Abwesenheit für Urlaub, Krankheit, Feiertag und Fortbildung.“ Der Blick auf die niederländischen Nachbarn spricht für sich: Dort ist von mangelnden Bewerbungen keine Rede und Mitarbeitende bei Buurtzorg verbleiben überdurchschnittlich lange in ihrem Job. Die Krankheitsrate liegt deutlich unter der von Pflegenden in Deutschland.

30 Prozent Kostenersparnis bei gleicher Qualität in der Versorgung

Der Kern von Buurtzorg – wie es die Übersetzung ‚Nachbarschaftssorge‘ andeutet – ist die Einbindung des persönlichen Umfelds der Pflegebedürftigen in deren Versorgung, also Angehörige, aber auch Nachbarn. Bei jeder Neuaufnahme eines Patienten oder einer Patientin wird als erstes geschaut, wie man die Menschen oder auch ihr Umfeld befähigen kann, Tätigkeiten, die nicht zwangsläufig einer Pflegefachkraft bedürfen, selbst auszuführen. „Der Vorwurf, wir würden damit die professionelle Pflege wegdelegieren, ist so nicht haltbar. Natürlich gibt es Aufgaben, die nur eine erfahrene Fachkraft oder ein*e Pflegehelfer*in ausführen sollen und können, aber ob für jeden Kompressionsstrumpf wirklich ein eigener Einsatz nötig ist, das wage ich zu bezweifeln“, so Sander. Deshalb gehört es zu den festen Aufgaben der Buurtzorg-Mitarbeitenden, aktive Netzwerkarbeit zu betreiben, bei Nachbarn zu klingeln und bei Angehörigen anzurufen.

Die Software von Buurtzorg, basierend auf dem in den USA entwickelten OMAHA-System, erlaubt eine umfassende Information, auch für die Angehörigen, und in bestimmten Fällen – unter Wahrung des Datenschutzes – auch für behandelnde Ärzte bzw. Ärztinnen. Sie ist durch die einfache Bedienung und den umfassenden Nutzen ein Kern des Systems, da sie nicht zu zusätzlicher überflüssiger Arbeit führt, sondern die Kommunikation und (Selbst-)Steuerung der Pflegenden unterstützt. Die umfassende Datenauswertung und die wissenschaftlichen Studien zeigen, dass in den Niederlanden 30 Prozent der Versorgungskosten eines Patienten/einer Patientin eingespart werden konnten. Das Silosystem der Vergütung in Deutschland macht es natürlich schwierig, diese Einsparungen ‚mal eben‘ zu heben. Hier ist ein gemeinsamer Weg mit den Kassen aber auch dem Gesetzgeber zu entwickeln.

Da Sander für sein Modellvorhaben mit den Kassen einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, der nicht Einzelleistungen abrechnet, sondern Stundenvergütungen, sollen durch eine wissenschaftliche Begleitung die Effekte für die Pflegebedürftigen aber auch für die Kassen analysiert werden – „eine Win-Win-Situation“, beteuert Sander. Die Zeit, die Pflegende bei den Patient*innen haben, sei Qualitätszeit und die Abkehr von den Pflegeleistungen als Produkt wird von Jos de Blok als „Abkehr von der industrialisierten Pflege“ bezeichnet. Pflegekräfte werden nach einem einheitlichen und transparenten Tarifvertrag bezahlt und durch die geringen Kosten der Overheadstruktur steht der Pflege mehr Geld und Zeit zur Verfügung.

Eine Utopie auf wackligen Beinen? – Etablierung von Buurtzorg in Deutschland

Es gibt bei allen schönklingenden Resultaten aus dem Nachbarland einige Fakten, die eine flächendeckende Etablierung von Buurtzorg in Deutschland derzeit noch erschweren: In den Niederlanden arbeitet der größte Teil der Mitarbeitenden in Teilzeit, weil Vollzeit-Stellen die nötige Flexibilität in der Regel nicht hergeben. Hier haben wir in Deutschland gegenläufige Tendenzen. Aufgrund des Fachkraftmangels ist der Ruf nach mehr Pflegekräften höher. Der Gedanke, die möglichen Einsparungen in der Pflegezeit in höhere Entlohnung zu investieren ist uns im Moment eher fern.

Darüber hinaus gibt es natürlich viele rechtliche Herausforderungen. Vor allem die fehlende Pflegedienstleitung ist nach derzeitiger rechtlicher Grundlage nicht zulässig und bedarf individueller Verhandlungen. „Manchmal muss man erst handeln, und dann passen sich die Rahmenbedingungen an“, so Sander. „Wir stehen noch am Anfang unserer Piloten-Teams und es wird sich zeigen, ob wir dieselben Erfolge erzielen können, wie in den Niederlanden. Unsere Ziele sind ambitioniert: Bessere Arbeitsbedingungen schaffen, eine höhere Ergebnisqualität beim Kunden hinterlassen sowie Kostenersparnisse erzielen.“ Aber Sander setzt großes Vertrauen in seine Teams und glaubt nicht, dass es an kulturellen oder mentalen Unterschieden scheitern wird.

Das Buurtzorg-Modell ist für die ambulante Pflege auch in Deutschland interessant, soviel steht fest. Was die konkrete Umsetzung betrifft, bleiben allerdings noch einige Fragen offen. Gunnar Sander zieht daher mit seinem Modellprojekt durch Deutschland, um von Stolpersteinen sowie Erfolgen zu berichten. Insgesamt lässt sich die Bereitschaft der Branche beobachten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – und auch Politik und Kassen scheinen sich dem Nachzug nicht zu verweigern.

Text: Marie Kramp