Inklusion ist ein großer Anspruch – Bernd Feix im Interview

Eine junge Frau und ein junger Mann sitzen zusammen am Tisch, vor ihnen ist ein Notebook aufgeklappt. Sie gucken gemeinsam in ein Heft und arbeiten darin.
Mittwoch, 05 November 2025 09:28

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat bei seiner Einführung vor acht Jahren neue Maßstäbe für die Eingliederungshilfe gesetzt. Es gilt als Meilenstein auf dem Weg, Menschen mit Behinderung eine umfassende und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen. Seitdem sind auch die Träger von Einrichtungen und Diensten gefordert, ihr Angebot anzupassen und nachhaltig zu verändern. Wie dieser Wandel in der Praxis gelingt, welche Spannungsfelder zwischen Anspruch und Realität bestehen und welche Rolle Politik, Gesellschaft und Träger einnehmen – darüber haben wir mit Bernd Feix, Pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern, gesprochen.

Erster Teil

Herr Feix, was ist Ihre persönliche Motivation, sich für Menschen mit Behinderung (MdB) einzusetzen und als pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern die Inklusion voranzutreiben?

Bernd Feix, pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern, steht vor einer Landschaft und lächelt in die Kamera. Man sieht seinen Oberkörper.

Bernd Feix

Mein Engagement für andere Menschen ist sicherlich in meiner Kindheit und Jugend stark geprägt worden durch die Tätigkeit meiner Eltern im sozialen Bereich. Ich bin im Kontext sozialer Arbeit aufgewachsen und habe früh die verschiedenen Handlungsfelder als sinnstiftend kennengelernt.

Darüber hinaus hat meine persönliche Motivation etwas mit den Erfahrungen während meines Zivildienstes zu tun. In den 20 Monaten konnte ich selbst ganz praktisch erleben, in welcher Situation sich Menschen mit einer Behinderung befinden und welche Rahmenbedingungen – ja auch fehlende Rahmenbedingungen – Menschen an einer vollumfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindern. Wir Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, unterschiedliche Begabungen, Talente und auch unterschiedliche Bedürfnisse. Oft entsteht Behinderung dadurch, dass in der Gesellschaft die notwendigen Rahmenbedingungen für ein gleichberechtigtes Miteinander fehlen. Insofern treibt mich das an, Rahmenbedingungen zu verändern. Inklusion ist ein großer Anspruch und braucht meiner Überzeugung nach das Wirken mehrerer Generationen, unter optimalen gesellschaftlichen Bedingungen, um Realisierung zu finden.

Im Laufe der Jahre, das möchte ich hier erwähnen, führten auch persönliche Grenzerfahrungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen dazu, mich mit aller Kraft für die Belange von Menschen mit einer Behinderung einzusetzen. Insbesondere das Handlungsfeld unserer Stiftung für Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung ist mir aus diesem Grund sehr nah, und ich bin dankbar, dass es in den letzten 15 Jahren möglich war, für diesen Personenkreis bedarfsgerechte Angebote in unserer Region zu entwickeln und darüber hinaus bundesweit an Netzwerken beteiligt zu sein, die auf die noch immer fehlenden Versorgungsstrukturen hinweisen und durch Ihre Arbeit, nicht zuletzt über bundesweite Kongresse, zu einer Verbesserung der Angebotsstruktur beitragen.

Das BTHG gilt als große Reform, „nach der nichts mehr so sein wird, wie bisher“. Ist das tatsächlich so? Was hat sich in den acht Jahren seit dem Inkrafttreten der ersten Stufe des BTHG konkret für die MdB verändert? Und wie wirkt sich die Reform auf die täglichen Arbeit in der Stiftung aus?

Als ich diese Frage gelesen habe, musste ich erst einmal tief durchatmen, denn einerseits ist das Bundesteilhabegesetz wirklich eine große Errungenschaft. Die Autorinnen und Autoren des Bundesteilhabegesetzes hatten eine deutliche Verbesserung der tatsächlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Fokus. Der Anspruch des Gesetzes ist zweifelsfrei ein Paradigmenwechsel und dringend umzusetzen.

Jedoch – und Sie fragen ja auch bewusst nach den Auswirkungen auf die tägliche Arbeit in der Stiftung Scheuern, zeigt sich nach acht Jahren Bundesteilhabegesetz in erster Linie die deutliche Zunahme des Verwaltungsaufwands. Bürokratie ist sicherlich das richtige Stichwort. Insbesondere die Antrags- und Abrechnungsverfahren führten zu einer deutlichen Zunahme des Aufwandes, ohne dass die Menschen, um die es eigentlich geht, überhaupt etwas davon mitbekommen, geschweige denn eine Verbesserung eingetreten ist.

Der Verwaltungsaufwand in unseren Einrichtungen und Diensten bindet erhebliche Ressourcen, die jedoch wiederum nicht refinanziert sind. Viele der Menschen, die wir begleiten, haben einen umfassenden Assistenzbedarf. Deren gesetzliche Betreuer erleben mit dem Bundesteilhabegesetz eine deutliche Zunahme an bürokratischen Aufgaben. Das führte bereits dazu, dass insbesondere ehrenamtliche Betreuer Ihre Aufgabe zurückgegeben haben, weil sie diesem Anspruch nicht mehr gewachsen sind. Wir versuchen, so weit wie möglich, Betreuerinnen und Betreuer in Ihrer Aufgabe zu unterstützen und bieten umfänglichen Support an. Dieser Aufwand bindet bei uns deutliche Ressourcen, die ebenfalls nicht refinanziert sind.

Vieles ist teurer geworden, besser ist es dadurch nicht. Die Energie bleibt im Overhead von Leistungsträgern und Leistungserbringern.

In einem weiteren Bereich sehen wir die Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes kritisch, denn die Finanzierung notwendiger Neubauten oder auch Umbauten ist so, dass für die besondere Wohnform nur 125 % der angemessenen Kosten anerkennungsfähig sind. Um jedoch die gegebenen gesetzlichen Standards erfüllen zu können – im Hinblick auf Hygiene, Barrierefreiheit und vieles andere mehr, übersteigen die tatsächlichen Kosten für einen solchen Bau diese 125% bei weitem. In der Konsequenz ist nicht genau geklärt, ob und bis zu welcher Höhe die darüber hinaus gehenden Kosten über die Fachleistung der Eingliederungshilfe zu decken sind. Dieses Vakuum führt zu deutlichen Verzögerungen bei der Realisierung von Neubauten. Gerade unsere Stiftung mit einem Campus-Gelände, mit teilweise veralteten Häusern und hohem Sanierungsbedarf trifft, dies in besonderer Weise.

Zusammengefasst glaube ich, dass sich für den größten Anteil der Menschen mit Behinderung eine wenig spürbare Verbesserung der Lebenssituation ergeben hat.

Im Evaluationsbericht des Bundessozialministeriums zum Stand der Umsetzung des BTHG entsteht der Eindruck einer gewissen Ernüchterung: die Kassenlage der öffentlichen Haushalte ist angespannt, die Verhandlungen der Rahmenverträge in den Ländern gestalten sich zäh, die Verwaltung der Leistungen ist vielfach aufwendiger als früher und der Fachkräftemangel verschärft sich. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Diese Frage ist leider einfach zu beantworten, denn alle Punkte sind mit einem Ja zu beantworten. Die Kassenlage ist angespannt. In Rheinland-Pfalz haben wir Landtagswahl im März 2026, d. h. die politische Landschaft bewegt sich schon langsam Richtung Wahlkampf. Meine These ist, dass wir nach der Landtagswahl hören werden, wie angespannt die Kassenlage wirklich ist. Wir haben Entsprechendes nach der Landtagswahl in Hessen mitbekommen: Der Landeswohlfahrtsverband Hessen hat Einsparungen in Milliardenhöhe auferlegt bekommen. Dass bleibt nicht ohne Konsequenz, und ich befürchte, dass wir in Rheinland-Pfalz Ähnliches erleben dürften.

Dazu kommt die Frage, wie stark die etablierten Parteien bei der Landtagswahl abschneiden werden. Wir erleben im Bundesgebiet und nicht nur national einen deutlichen Ruck Richtung Rechtsextremismus, und das treibt uns als Verantwortliche der Stiftung Scheuern die Sorgenfalten auf die Stirn. Denn der verhandelte Rahmenvertrag und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Rheinland-Pfalz werden auch davon abhängig sein, inwieweit sich hierfür politisch eine Mehrheit finden lässt.

Der zweite von Ihnen genannte Punkt Fachkräftemangel verschärft sich weiter. Ich will sogar so weit gehen: Wir leiden nicht nur unter einem Fachkräftemangel, sondern unter einem Arbeitskräftemangel in unserer Stiftung. Es wird immer schwieriger, die Stellen in den unterschiedlichsten Bereichen qualifiziert zu besetzen. Fachkräfte in dem notwendigen Umfang zu gewinnen, nimmt einen großen Stellenwert ein. Themen wie Arbeitgebermarke, Unternehmenskultur, entsprechende Social-Media-Auftritte und modernes Recruiting sind in diesem Zusammenhang wichtige Stichpunkte. Aber insbesondere auch das Thema der Führungskultur. Führung entscheidet nach meiner Überzeugung darüber, ob es gelingt, Menschen für unsere Arbeit zu gewinnen, ob es gelingt das diese Menschen langfristig bei uns bleiben.

Zudem brauchen wir für unsere Arbeit Menschen mit Fachwissen, aber auch mit einer den Menschen zugewandten Haltung. Das ist für mich der Bezug zum Bundesteilhabegesetz, denn wir reden heute zunehmend von unseren Kundinnen und Kunden, die einen Rechtsanspruch auf eine Dienstleistung haben und insofern auch ein Wunsch- und Wahlrecht besitzen. Das ist aus meiner Sicht ein Kern des Paradigmenwechsels hinter dem Bundesteilhabegesetz.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich aus meiner Sicht weiter verschärfen, und insofern ist es gut, dass wir erhebliche Anstrengungen unternehmen, insbesondere auch Fachkräfte zu gewinnen. Ein wichtiger Baustein dafür ist natürlich die Ausbildung in unserer Stiftung, die Gewinnung von Dualstudierenden und viele andere Maßnahmen mehr. Es wird ggf. auch die Frage zu beantworten sein, wie es gelingt, eine möglichst gleichbleibende Qualität mit weniger Mitarbeitenden zu erreichen. Hier sind als Kompensationsmöglichkeiten u. a. assistive Techniken und KI zu bewerten.

2. Teil des Interviews

Welche Widersprüche erleben Sie zwischen dem Anspruch an eine moderne, selbstbestimmte Teilhabe und den finanziellen Rahmenbedingungen? Wie geht die Stiftung Scheuern mit diesem Spannungsfeld um? Gerade für einen diakonischen Träger ist es bestimmt nicht einfach, eine Balance zwischen dem eigenen Anspruch und der (wirtschaftlichen) Realität zu finden.

Ich empfinde den Anspruch an eine moderne selbstbestimmte Teilhabe und das Spannungsfeld um die finanziellen Rahmenbedingungen nicht unbedingt als Widerspruch, ich würde vielmehr beide Facetten als zwei Seiten einer Medaille bezeichnen. Der Bundesgesetzgeber setzt mit dem Bundesteilhabegesetz klare Parameter, die den Anspruch von Menschen mit Assistenzbedarf  definieren. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber die notwendigen finanziellen Rahmenbedingungen vorzuhalten, um dem definierten Anspruch gerecht werden zu können. Ist das nicht so, müssten wir sinnbildlich von „des Kaisers neue Kleider“ reden. Wir würden die tollen Errungenschaften unseres Sozialleistungsrechts preisen und beim genaueren Hinsehen feststellen, dass leider vergessen wurde, die finanziellen Mittel dafür bereit zu stellen.

Unsere Aufgabe als Stiftung Scheuern besteht darin, Menschen zu Ihrem Anspruch zu verhelfen, indem wir sie auch bei der Rechtsdurchsetzung unterstützen und auf der anderen Seite gegenüber dem Leistungsträger deutliche Forderungen nach einer entsprechenden Finanzierung der notwendigen Assistenzleistungen sicherzustellen, sei es in der besonderen Wohnform oder im Bereich der Mobilen Assistenz etc. Deshalb knüpfen wir unsere finanziellen Forderungen auch an ein System der Bedarfe, die mit dem individuellen Bedarfsermittlungssystem in Rheinland-Pfalz ermittelt werden.

Darüber hinaus müssen wir gerade in der heutigen Zeit unsere Lobbyfunktion deutlich verstärken, denn in den aktuellen politischen Diskussionen sind die Belange von Menschen mit Behinderung nicht mehr wahrzunehmen. Wir leben in Zeiten, in denen die Gesellschaft und damit die politisch Verantwortlichen sich mit anderen Themen auseinandersetzen. Ich erlebe seit geraumer Zeit wenig öffentliches Interesse für unsere Belange, insofern kommt uns auch als Stiftung Scheuern eine wichtige Rolle zu, die Rechte von Menschen mit Behinderung deutlicher zu vertreten.

Wenn wir den Blick nach vorn richten: Welche Schritte müssten Politik, Leistungsträger und Leistungserbringer jetzt gehen, damit die Ziele des BTHG umgesetzt werden können und der Inklusionsgedanke tatsächlich greift? Wie könnte ein guter Kompromiss zur Zielerreichung aussehen – die leeren Kassen lassen sich ja nicht verleugnen?

Ehrlich gesagt, bin ich nicht davon überzeugt, dass wir richtigerweise von leeren Kassen sprechen. Vielmehr geht es darum, in welchem Umfang Mittel verteilt werden, und hier geht es ja schon immer nach dem Motto: Wer hat die beste Lobby? Dass wir insgesamt möglicherweise deutlich mehr Begehrlichkeiten haben, ist nicht zu leugnen. Es ist vielmehr eine Frage der politischen Redlichkeit auf Bundes- und Landesebene, ob es gelingt, die Setzungen des Bundesteilhabegesetzes auch tatsächlich in die Praxis umzusetzen.

Und die Gesellschaft? Was muss hier passieren? In den letzten Jahren gab es durchaus positive Veränderungen zu beobachten. Gleichzeitig wecken Ereignisse wie die Rücknahme von Maßnahmen für Diversität, Gleichstellung und Inklusion in den USA unter Donald Trump oder das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Europa und Deutschland, den Eindruck, dass eher neue Trennlinien anstatt Inklusion entstehen.

Mein Eindruck ist, dass wir als Gesellschaft in der aktuellen Lage sehr sensibel für akute Situationen und Ereignisse sind. Dies wird deutlich davon beeinflusst, welche Themen es in die mediale Welt schaffen. Wir dürfen schlicht und ergreifend nicht aufhören über Personenzentrierung, Selbstbestimmung, die Forderungen der UN-Konvention, Integration und letztendlich auch Inklusion zu sprechen. Unsere Aufgabe ist es, Menschen, die von Ausgrenzung bedroht sind, eine starke Stimme zu geben und uns für deren Rechte einzusetzen. Wir brauchen einen langen Atem.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten – was wünschen Sie sich für die Inklusion in Deutschland?

Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Mahnung. Die rechtsextremen Strömungen in diesem Lande nutzen diese Kräfte gezielt, um zu spalten und unsere demokratische Ordnung zu erschüttern. Mit Demagogie, Hetze und Ausgrenzung. Mein Wunsch ist deshalb, dass die Mehrheit, die das absolut verurteilt, ihre Stimme erhebt und deutlicher zu vernehmen ist. Bei allen Krisen und gesellschaftlichen Herausforderungen dürfen wir in einem freien Land leben, in dem es ein uneingeschränktes gesetzlich normiertes Recht auf Teilhabe gibt. Das gilt es gemeinsam zu bewahren, denn das ist die Grundlage für den langen Weg der Inklusion. Jeder von uns ist zu jeder Zeit von Behinderung bedroht. Es geht also um uns und nicht um die anderen. Insofern ist das eine Mahnung und ein Wunsch zugleich.

 

Zur Person:

Bernd Feix ist seit 2019 Pädagogischer Vorstand im dreiköpfigen Vorstandsteam der Stiftung Scheuern in Nassau an der Lahn. Zuvor war er dort seit 2001 in verschiedenen Leitungsfunktionen tätig. Zu seinen Aufgaben gehören die fachliche Steuerung und Weiterentwicklung der operativen Handlungsfelder der Stiftung. Ihm sind sämtliche Geschäftsbereiche sowie die Stabsstellen Planung & Entwicklung, Individualisierte Dienstleistungen, Case Management und Pflegequalitätssicherung zugeordnet. Darüber hinaus arbeitet er im Vorstandsteam an übergreifenden Themen wie Strategie- und Organisationsentwicklung mit.

Redaktion: Annette Borgstedt
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Birgitta Neumann

Birgitta Neumann Portrait

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