Altersdiversität als Chance, dem demografischen Wandel zu begegnen

Altersdiversität
Mittwoch, 08 Oktober 2025 15:46

Ob Pflege, Kita oder Wohneinrichtung – überall fehlen Fachkräfte. Wer Personal gewinnen und binden will, muss alle Generationen im Blick behalten: von flexiblen Lebensphasenmodellen über altersfreundliche Jobs bis hin zu aktivem Wissensmanagement. Welche Chancen darin stecken, erklären Eva Lettenmeier und Katharina Norpoth von contec.

 

Eva Lettenmeier leitet den Geschäftsbereich Pflegewirtschaft und ist Partnerin und Mitglied der Geschäftsleitung bei contec. Sie berät Pflegeeinrichtungen bei fachlichen und betriebswirtschaftlichen Fragestellungen sowie bei deren strategischer Ausrichtung.

Katharina Norpoth arbeitet als projektleitende Personal- und Managementberaterin bei conQuaesso® JOBS, der Personalberatung von contec. Sie berät Organisationen in allen Fragen der Personalsuche mit Fokus auf mittlerem und oberem Management und begleitet Auswahlprozesse bis ins Onboarding.

 

Warum ist der demografische Wandel für die Sozialwirtschaft so herausfordernd?

Portrait Eva Lettenmeier - contec

Eva Lettenmeier

Eva Lettenmeier: Der demografische Wandel stellt alle Arbeitgeber*innen in Deutschland vor strategische Herausforderungen. Besonders deutlich zeigt sich das aber in der Pflegewirtschaft. Zum einen geht die Zahl potenzieller Arbeitskräfte zurück – insbesondere in der Gruppe der 50- bis 65-Jährigen, die heute noch sehr stark vertreten ist. Zum anderen steigt der Bedarf an Pflegeleistungen kontinuierlich. In der Pflege wirkt der demografische Effekt also doppelt: weniger Mitarbeitende bei gleichzeitig steigendem Bedarf.

Gleichzeitig können wir in der Pflege die Produktivität nicht so steigern wie in anderen Branchen, etwa durch Digitalisierung oder KI. Zwar gibt es hier Potenziale, aber nicht in dem Ausmaß, wie es nötig wäre. Wir haben also heute schon zu wenig Personal und gleichzeitig eine wachsende Nachfrage. Das ist existenziell für Einrichtungen, die sich schon heute bei ihrer zukünftigen strategischen Ausrichtung vor allem die Frage stellen müssen, ob sie für das eine oder andere Geschäftsfeld, denn noch genügend Mitarbeitende haben werden.

Katharina Norpoth: Dazu kommt, dass es an vielen Stellen versäumt wurde, frühzeitig in die Mitarbeiterbindung zu investieren. Es braucht mehr Kreativität in der Personalentwicklung, bei Arbeitszeitmodellen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder in Sachen Arbeitgeberattraktivität. Stichworte sind unter anderem Benefits, Atmosphäre und eine starke Identifikation mit dem Unternehmen.

Haben Pflegeeinrichtungen diesen Prozess verschlafen? Oder ist jetzt noch ein guter Zeitpunkt, um gegenzusteuern?

Eva Lettenmeier: Ich würde das nicht nur auf die Pflegebranche beschränken. Auch in Kitas oder sozialen Einrichtungen gilt: Ohne Personal geht nichts. Es ist nie zu spät, zu handeln. Die größte Beschäftigtengruppe sind derzeit die 50- bis 60-Jährigen. Menschen mit Erfahrung, Know-how und Leistungsbereitschaft. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen wie bei der Generation der Babyboomer, von denen viele frühzeitig in den Ruhestand gehen. Wir sollten jetzt gezielt Strategien entwickeln, wie wir diese Generation im Arbeitsleben halten können mit Freude und Sinn.

Was zeichnet die große Beschäftigungsgruppe der Generation 50+ beruflich aus in ihren Wünschen und Erwartungen?

Katharina Norpoth: Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Generationen – in Haltungen, im Kommunikationsstil oder im Umgang mit Hierarchien. Aber viele Werte wie Sicherheit, Flexibilität und Selbstbestimmung sind generationenübergreifend relevant. Daher braucht es vor allem eine universal gute Personalarbeit, die weniger in Generationen denkt, sondern viel mehr von den Mitarbeitenden aus. Denn gute Personalarbeit, die generationsübergreifend wirkt, zeichnet sich durch viele Aspekte aus.

Eva Lettenmeier: Klassische Karriereverläufe – Einstieg, Aufstieg, Ruhestand – entsprechen längst nicht mehr der Realität. Biografien verlaufen heute zirkulär: Phasen intensiver Arbeit wechseln sich mit Zeiten ab, in denen Familie, Weiterbildung oder andere Aspekte im Vordergrund stehen. Unternehmen müssen flexibler reagieren und Arbeitsmodelle anbieten, die zu diesen unterschiedlichen Lebensphasen passen.

Wie können Organisationen konkret starten?

Portrait von Katharina Norpoth, Personalberaterin der contec

Katharina Norpoth

Katharina Norpoth: Indem sie den gesamten Berufsverlauf in den Blick nehmen. Daraus ergeben sich bedarfsorientierte Bausteine, die sich flexibel zusammensetzen lassen, angepasst an individuelle Bedürfnisse und Pläne.

 

Eva Lettenmeier: Ein Beispiel: In vielen Unternehmen gibt es ein etabliertes Probezeitgespräch. Aber kaum jemand führt strukturierte Gespräche mit Mitarbeitenden, die seit 10 Jahren in der gleichen Position sind. Dabei könnte genau hier ein Perspektivwechsel angestoßen werden: Ist das noch der richtige Job? Gibt es Alternativen im Unternehmen? Das betrifft nicht nur die Organisation, sondern auch die individuelle Zufriedenheit und Gesundheit der Mitarbeitenden.

Also empfehlen Sie regelmäßige Lebensphasengespräche?

Eva Lettenmeier: Genau. Die persönliche Biografie spielt eine große Rolle. Oft äußern Mitarbeitende selbst, dass sie weniger arbeiten oder ein neues Modell ausprobieren möchten. Eine gute Personalentwicklung nimmt das ernst und schafft einen Rahmen für Entwicklung – nicht nur zu Beginn, sondern auch mitten im Berufsleben oder in späteren Phasen. Uns ist dabei absolut bewusst, dass dieser Kulturwandel gerade in unseren arbeitsrechtlich geprägten Welten, in denen das Thema „Besitzstand“ eine große Rolle spielt, eine steile Herausforderung für Mitarbeitende und Führungskräfte darstellt. Aber es hilft ja nichts, die sich abzeichnende Lage erlaubt kein „Das haben wir doch noch nie gemacht.“

Katharina Norpoth: Wichtig ist auch, Arbeitsplätze altersfreundlich zu gestalten. Denn gerade in körperlich fordernden Bereichen wie Pflege oder Hauswirtschaft gibt es natürliche Grenzen. Das bedeutet aber nicht, dass Wissen und Expertise mit dem Ausscheiden aus körperlich belastenden Tätigkeiten verloren gehen müssen. Vielmehr gilt es, die Erfahrung dieser Mitarbeitenden für die Organisation nutzbar zu machen – sei es durch Mentoring, Anleitung oder andere Rollen. Entscheidend ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Transfer ermöglichen und Synergien erzeugen. So kann wertvolles Know-how erhalten bleiben und neu fruchtbar gemacht werden.

Wie kann man Wissen von älteren Mitarbeitenden sichern?

Eva Lettenmeier: 80 % des Wissens in Organisationen ist informell und an Personen gebunden. Gerade in der Pflege steckt es in Köpfen, nicht in Datenbanken. Wir brauchen Formate, die diesen Schatz sichern: Tandemgespräche, Dokumentationen, generationsübergreifende Teams und neue Ideen für Wissensmanagement. In der Wirtschaft wird gerade viel über KI gesprochen. Es gibt Großkonzerne, die lassen gezielt Meetings zwischen Generationen aufzeichnen, um Wissen zu sichern.

Braucht es einen Kulturwandel in der Personalarbeit?

Katharina Norpoth: Teams, die altersgemischt sind, haben oft eine bessere Arbeitskultur und sind produktiver. Dennoch wird Alter selten als Diversitätskriterium berücksichtigt. Im Recruiting wird zum Beispiel häufig implizit eine Altersgrenze gesetzt. Das ist eine verschenkte Chance.

Ich beobachte zum Beispiel, dass jungen Führungskräften oft die Lebenserfahrung abgesprochen wird, während älteren manchmal unterstellt wird, sie seien nicht mehr offen für Wandel. Beides sind Zuschreibungen, die hinderlich sind. Viel besser ist es, auf Erfahrung, Kompetenz und Potenziale zu schauen, unabhängig vom Alter.

Eva Lettenmeier: Es braucht ein Umdenken: Nicht das Alter entscheidet, sondern die Passung zur Aufgabe und zum Team.

Außerdem: Gerade angesichts der geburtenstarken Jahrgänge, die in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen, ist es entscheidend, Mitarbeitende möglichst lange im Beruf zu halten. Das muss nicht immer in Vollzeit oder in der bisherigen Rolle sein. Auch eine Reduktion der Stunden oder eine neue Aufgabenverteilung kann dafür sorgen, dass Menschen länger bleiben – und das ist für Unternehmen enorm wertvoll.

Ihr empfehlt einen Dreiklang aus Analyse, Strategie und Methodenkompetenz. Was bedeutet das konkret?

Eva Lettenmeier: Analyse heißt: belastbare Daten zur Belegschaft, zu Teams, Berufsgruppen und Altersgruppen. Wie alt sind meine Mitarbeitenden? Wer geht wann in Rente? Wie hoch ist die Fluktuation? Wann tritt sie auf und gibt es Indikatoren, an denen wir sie frühzeitig erkennen können? Viele Einrichtungen wissen das nicht präzise. Darauf aufbauend kann eine Strategie entwickelt werden: Welche Risiken bestehen? Welche Maßnahmen braucht es?

Katharina Norpoth: Methodenkompetenz meint dann: Prozesse professionell aufsetzen – etwa Onboarding, Gesundheitsmanagement, Lebensphasengespräche. Es geht nicht um Checklisten, sondern um passgenaue Instrumente, die sich flexibel in die Organisation integrieren lassen.

Eva Lettenmeier: Gerade kleinere Träger brauchen hier praxistaugliche Lösungen. Nicht jeder muss mit Big Data arbeiten. Aber alle sollten die eigene Altersstruktur analysieren und daraus Konsequenzen ziehen, das ist auch betriebswirtschaftlich sinnvoll. Denn jeder Mensch, der ein Jahr länger bleibt, spart immense Recruiting- und Fluktuationskosten.

Sozialwirtschaftliche Organisationen haben es in der Hand, den Wandel aktiv zu gestalten. Wenn wir Vielfalt als Stärke begreifen und Mitarbeitende in allen Lebensphasen ernst nehmen, sichern wir die Zukunftsfähigkeit unserer Branche und machen Arbeit zu einem Ort, an dem Menschen gerne bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Redaktion: Katharina Ommerborn
Foto: Sanja/Adobe Stock

Eva Lettenmeier & Katharina Norpoth

Portrait Eva Lettenmeier - contec

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