Gewaltschutz in WfbM und WTG-Novellierung in NRW: „Der Zweck heiligt nicht die Mittel.“
Im Juli dieses Jahres – mitten in den Sommerferien – startete das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) NRW unter Minister Karl-Josef Laumann eine Initiative zur Änderung des Wohn- und Teilhabegesetzes sowie des Ausführungsgesetzes zum Neunten Sozialgesetzbuch. Unmittelbar nach der Aufforderung zur Stellungnahme erfolgte ein Aufschrei seitens der beteiligten Verbände – der LAG WfbM NRW sowie der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. Der Gesetzentwurf komme zu einer Unzeit, es gebe juristische, fachliche und ökonomische Bedenken sowohl von den Werkstätten als auch von den Leistungsträgern. Wir haben mit Dr. Michael Weber, Vorsitzender der LAG WfbM NRW, und Martin Weißenberg, Managementberater bei contec, über den aktuellen Stand des Gesetzgebungsverfahrens und die erheblichen Einwände dazu gesprochen. Außerdem wollen wir einen Blick darauf werfen, was WfbM jetzt schon in puncto Gewaltschutz tun können.
Herr Weißenberg, ganz kurz zur Einordnung: Was sieht die vorgeschlagene WTG-Novellierung von Minister Laumann zum Gewaltschutz in WfbM vor?
Weißenberg: Der Knackpunkt – um es kurz zu halten – ist die Einführung einer staatlichen Aufsicht über den Gewaltschutz in Werkstätten für behinderte Menschen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass WfbM in ihrer Gewaltprävention zukünftig auch durch die WTG-Behörden kontrolliert werden sollen. Dafür hat das Ministerium ein Personalvolumen von über 30 Stellen bei den WTG-Behörden und rund 4 Mio. Euro vorgesehen. In ganz Deutschland ist ein solcher Vorstoß eines Landesministeriums bisher einzigartig. Sowohl für die Werkstätten als auch für die Landschaftsverbände bedeutet das einen hohen finanziellen und personellen Mehraufwand und es scheint fraglich, ob mehr Kontrolle auch wirklich zu besserem Gewaltschutz führt.
Herr Dr. Weber, die Stellungnahmen der LAG WfbM NRW sowie der Kommunalen Spitzenverbände sind in ihrer Deutlichkeit kaum zu überbieten: Zustimmung beim Ziel des Gewaltschutzes, aber Ablehnung in fast allen Maßnahmen auf dem Weg dorthin. Warum diese Ablehnung gegen die Gesetzesinitiative des MAGS NRW?
Weber: Wir Werkstätten sind spätestens seit der Wallraff-Berichterstattung im Jahr 2017 (die ja auch im ersten Entwurf der Gesetzesbegründung als Ursache genannt wurde) intensiv in Beratungen, wie wir das Thema Gewaltschutz in WfbM angehen, übrigens auch in Abstimmung mit dem Ministerium sowie natürlich mit den Leistungsträgern, insbesondere den beiden Landschaftsverbänden.
Gemeinsam haben wir seitdem eine Rahmenvereinbarung zum Gewaltschutz entwickelt, der alle Werkstätten und auch alle Werkstatträte in NRW beitreten sollen. Wir sind zwar bei der Beitrittsquote noch nicht bei hundert Prozent, aber die meisten haben diese Selbstverpflichtung unterschrieben, nehmen das Thema ernst und beteiligen sich durch verschiedenste Aktivitäten daran, dass Gewaltschutz in unseren Einrichtungen gelebt wird. Und dieses Verfahren läuft noch. Es ist noch zu früh, um zu evaluieren, wie gut es funktioniert, aber wir sind auf einem guten Weg. Als LAG-Vorsitzender bin ich immer davon ausgegangen, dass man diese Maßnahme erst einmal greifen lässt, sie evaluiert und dann mögliche weitere Schritte einleitet. Deshalb hat mich diese Gesetzesinitiative des Landes sehr überrascht, aber eben nicht nur mich, sondern auch die beiden Landschaftsverbände. Wir sind da als Akteure offensichtlich auch gezielt in den Vorbereitungen herausgehalten worden. Dazu kam der Gesetzentwurf unmittelbar vor einem Treffen zwischen uns und den Landschaftsverbänden, in dem wir das Thema standardisierte Leistungsdokumentation verhandeln wollten, die Teil des Rahmenvertrags ist. Darunter fallen bekanntlich auch Fragen der Qualität und des Gewaltschutzes. Dieses Treffen haben wir dann spontan in beiderseitigem Einvernehmen abgesagt, weil es überhaupt nicht sinnvoll ist, da irgendetwas zu verhandeln, wenn möglicherweise demnächst noch eine dritte Partei, die WTG-Behörde, mit am Tisch sitzen müsste. Das Ministerium hätte keinen unglücklicheren Zeitpunkt für den Vorstoß wählen können.
Es bestehen neben dem unglücklichen Zeitpunkt erhebliche Bedenken sowohl auf juristischer als auch auf fachlich-inhaltlicher und ökonomischer Ebene. Die juristischen Bedenken beziehen sich vor allem auf die Zuständigkeit bei der Aufsicht über Werkstätten für behinderte Menschen. Können Sie das kurz erläutern?
Weber: Im Kern ist das Problem aus juristischer Sicht schnell beschrieben: Die Heimaufsicht ist Ländersache, die Aufsicht über WfbM ist Bundesangelegenheit. Ich bin zwar kein Jurist, aber die Juristen der Kommunalen Spitzenverbände haben in ihrer Stellungnahme mehr als deutlich gemacht, dass ein Gesetzgebungsverfahren wie dieses nicht verfassungskonform ist. Werkstattaufsicht liegt schlichtweg nicht in der gesetzgeberischen Zuständigkeit der Länder. Und interessanterweise hat da vor einem Jahr, im April 2020, auch das Ministerium, ja Herr Laumann persönlich, noch drauf hingewiesen. Damals hatten die Landschaftsverbände nämlich mehr Kontrollbefugnis in den Werkstätten gefordert. Und nun widerspricht sich der Minister selbst und auch dem Willen des Bundesgesetzgebers, der in der Werkstättenverordnung des SGB IX explizit vor Doppelstrukturen bei der Prüfung warnt. Dass jetzt nur in Nordrhein-Westfalen ein anderer Weg beschritten werden soll, das hat mich doch sehr verblüfft.
Welche fachlichen Einwände haben Sie gegen den Gesetzentwurf?
Weber: Aus fachlicher Sicht stellen sich mir zwei Fragen. Erstens: Haben wir es mit den richtigen Zielen zu tun? Da sage ich ganz klar: Ja. Gewaltschutz in WfbM bzw. Gewaltprävention und Qualität in Werkstätten ist ein wichtiges Ziel und wie gesagt: Da arbeiten wir seit Jahren dran und sind auf einem guten Weg, den man nach gegebener Zeit evaluieren muss. Zweitens: Sind die vorgetragenen Mittel die richtigen, um das Ziel zu erreichen? Und auch da ist meine Antwort deutlich: Nein! Man stelle sich vor, es kommt jetzt zusätzlich jemand von der WTG-Behörde einer Kommune und kontrolliert. Und das soll dann dazu führen, dass in einzelnen Fällen von Großorganisationen der Gewaltschutz besser funktioniert? Wohl kaum.
Unsere Rahmenvereinbarung hält bereits eine Fülle von Ansatzpunkten vor, wie man tatsächlich der schwierigen Herausforderung des Gewaltschutzes in WfbM nachkommen kann. Ich sag es mal so frei heraus: Das Geld, das für die externe Kontrolle ausgegeben werden soll, wäre besser für Personal- und Organisationsentwicklungsmaßnahmen in den Einrichtungen eingesetzt. Da packt man doch das Problem an der Wurzel. Gewalt findet nicht deshalb statt, weil zu wenig kontrolliert wird. Gewalt findet unter Umständen statt, weil Mitarbeitende mit herausforderndem Verhalten überfordert sind oder weil Personalmangel zu großer Belastung führt, weil Führungskräfte nicht richtig hinsehen oder fachliche Schulungen fehlen. Das sind alles Ansatzpunkte, von denen ich behaupten würde, dass sie eher ans Ziel führen als mehr Kontrollen von außen. Im Zweifel erhöht das sogar noch den Druck in den Betrieben.
Ziele formulieren kann jeder. Darauf zu achten, dass man keine negativen Nebenwirkungen verursacht und dass man effizient agiert und die Mittel, die man hat, richtig einsetzt: Das ist gescheite Politik. Und das scheint mir hier nicht der Fall zu sein.
Wie so oft spielt auch das Geld eine wichtige Rolle. Gerade die Kommunalen Spitzenverbände rechnen damit, dass die veranschlagten vier Millionen Euro nicht ausreichen werden und auch Sie kritisieren die ökonomische Seite des Vorhabens. Warum?
Weber: Ein Ökonom schaut immer auf die Zweck-Mittel-Relation. Was wir hier vorfinden, ist schlichtweg die Fehlallokation finanzieller und personeller Mittel. Es braucht ja insbesondere qualifizierte Fachkräfte für die vorgesehenen Stellen. Wir müssen uns auch in der Sozialwirtschaft immer mehr fragen: Können wir zusätzliche Aufgaben bei der Steuerung und Kontrolle überhaupt noch übernehmen, weil wir die Leute eventuell gar nicht mehr finden oder aus den Einrichtungen abwerben müssen? Was für ein Teufelskreis das wäre. Die Fachkräfte werden von den WTG-Behörden aus den Werkstätten abgeworben, um diese zu kontrollieren, und die Arbeitsbedingungen in den Werkstätten werden immer schlechter, weil es kaum mehr qualifiziertes Personal gibt. Mein Gegenvorschlag: Die 33 Stellen und die vier Mio. Euro in die Strukturen und das Personal vor Ort investieren und das Thema Gewaltschutz in WfbM erfährt eine wirkliche Wendung.
Weißenberg: Man darf außerdem nicht unterschätzen, was an Mehraufwand bei WfbM und Landschaftsverbänden entstehen wird. Da müssen Berichte geschrieben und Konzepte erstellt werden. Das sind alles Kosten, die im Zweifel über die Leistungsträger refinanziert werden müssen. Ich glaube nicht, dass diese Aufwendungen bereits in den vier Mio. Euro mitberücksichtigt sind.
Was wünschen Sie sich für das weitere Verfahren und was erwarten Sie, Herr Weber?
Weber: Eine korrigierte und abgespeckte Fassung des Gesetzentwurfs wird aller Wahrscheinlichkeit nach trotz unseres Widerstands in den Landtag eingebracht werden. Das wird im Laufe des Frühherbstes noch geschehen. Nichtsdestotrotz habe ich meine Meinung zu diesem Vorstoß deutlich kundgetan und hoffe, dass diese Stellungnahme Gehör findet. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, dass wir in diesen schwierigen Zeiten – Stichwort: Pandemie – weiterhin eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Ministerium pflegen. An der brisanten Zuständigkeitsfrage in Sachen WTG ändert das nichts. Ich fände es deshalb sinnvoll, dass der Bundesgesetzgeber einmal auf diese Angelegenheit schaut. Denn wenn wir in NRW jetzt anfangen, am Werkstätten-System rumzubasteln, dann werden die anderen Bundesländer sagen: Was die in NRW können, das können wir auch. Und dann bildet sich rasch ein unüberschaubarer Flickenteppich.
Was müssen Anbieter Ihrer Meinung nach jetzt in puncto Gewaltschutz in WfbM unternehmen, Herr Weißenberg?
Weißenberg: Nicht in Panik verfallen, aber das Thema Gewaltschutz ernst nehmen, was viele auch schon tun. Es wäre wünschenswert, dass noch mehr Einrichtungen der Rahmenvereinbarung der Arbeitsgemeinschaft beitreten und sich selbst zu mehr Gewaltschutz verpflichten. Unabhängig davon sollten sich alle Werkstattträger daran machen, ein Gewaltschutzkonzept zu erarbeiten. Dieses sollte nicht nur eine Präventions-, sondern auch eine Interventionsstrategie beinhalten. Es braucht personelle Verantwortlichkeiten und Mitwirkung des Werkstattrates und der Frauenbeauftragten. Und dann geht es um die Umsetzung von konkreten Maßnahmen des Konzeptes, z. B.: Mitarbeitende für den Umgang mit herausforderndem Verhalten schulen, Rotationssysteme in der Einrichtung, sodass Mitarbeitende nicht zu lange in derselben Gruppe, also mit denselben Beschäftigten und Kolleg*innen eingesetzt sind. Und auch bei der Einstellung von Personal und der Teamzusammensetzung kann man über Persönlichkeitstests herausfiltern, ob irgendjemand vielleicht weniger Resilienz an den Tag legt als andere und die Mitarbeitenden dann gut durchmischen und gezielt entwickeln. Im Idealfall wird das Gewaltschutzkonzept gemeinsam mit der Umstellung auf die personenzentrierte Leistungserbringung gedacht. Denn diese beiden Themen hängen eng zusammen. Gerade, wenn es um Schulung und Befähigung der Mitarbeitenden geht.
Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch!
Text: Marie Kramp© Photo by fauxels from Pexels
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