Inklusive Kinder- und Jugendhilfe: mit einem Change-Prozess die Weichen für die Zukunft stellen

inklusive Kinder- und Jugendhilfe
Montag, 31 Juli 2023 14:20

Das KJSG und die damit einhergehende inklusive Kinder- und Jugendhilfe ab 2028 stellen die gesamte Branche vor große Aufgaben. Der Auftrag ist eindeutig und trifft in der Branche auf breite Zustimmung. Wie die Umsetzung der inklusiven Lösung jedoch im Detail aussehen soll, wirft noch Fragen auf – einige davon werden vermutlich auch erst mit dem Gesetzentwurf, der spätestens zum 1. Januar 2027 vorliegen muss, beantwortet werden können. Dennoch können die beteiligten Akteure schon heute vorbereitende Maßnahmen treffen. Wie freien Trägern der Change hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe gelingt, wollen wir Ihnen in diesem Artikel aufzeigen.

Das KJSG und die inklusive Lösung

Mit der Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021 hat der Gesetzgeber unter anderem die sogenannte inklusive Lösung beschlossen. So sollen die Leistungen für junge Menschen mit (drohender) seelischer Behinderung und die Leistungen für junge Menschen mit (drohender) körperlicher und geistiger Behinderung im Verantwortungsbereich des SGB VIII zusammengeführt werden. Diese Überführung gleicht einer Mammutaufgabe und soll daher mit einem eigenen Gesetz detailliert ausgestaltet werden. Den entsprechenden Gesetzesentwurf möchte das BMFSFJ noch in dieser Legislaturperiode vorbereiten und hat dafür im Juni 2022 einen zweiten Beteiligungsprozess mit dem Titel „Gemeinsam zum Ziel – wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ gestartet.  In diesem Prozess sind wieder viele Expert*innen aus der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, der Selbstvertretung und Forschung involviert, um alle Perspektiven zu berücksichtigen und eine breite Basis für das Gesetz zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen.

Lesetipp: Eine ausführliche Übersicht über die weiteren Neuerungen und Handlungsbedarfe durch das KJSG finden Sie in unserem Übersichtsartikel: Das neue KJSG und die inklusive Lösung: Das erwartet die Kinder- und Jugendhilfe

Hörtipp: Mit Alexandra van Driesten vom Careleaver e.V. haben wir über den Beteiligungsprozess „Gemeinsam zum Ziel“ in einer Folge des Sozial Talk gesprochen – hören Sie hier, wie der aktuelle Stand aussieht und wie viel Partizipation im Beteiligungsprozess steckt.

Auch wenn die Zeit bis zum Gesetz und der inklusiven Lösung ab 2028 noch lang wirken mag, können die beteiligten Akteure gar nicht früh genug mit den Vorbereitungen und in Teilen auch bereits mit der Umsetzung anfangen.

Change-Prozess: Auf dem Weg zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe

Die inklusive Lösung erfordert von den beteiligten Institutionen eine komplette Neuausrichtung und diese kann nur mit einem Change-Prozess auf allen Ebenen gelingen: die Organisationsstruktur, die Personalausstattung und –qualität sowie die Fort- und Weiterbildung des Personals, die interne und externe Kommunikation, die Unternehmenskultur und das Selbstverständnis der Mitarbeitenden, die zugrundeliegenden Konzepte und Leistungen – all das und mehr steht nun im Rahmen der inklusiven Lösung vor Veränderungen. Für die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies, für sich zu klären, welche Rolle und Aufgaben sie in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfelandschaft einnehmen und wie sie dies umsetzen wollen.

Damit die Neuausrichtung der freien Träger auf eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe gelingt, braucht es Zeit und vor allem müssen im nötigen Change-Prozess alle Seiten der inklusiven Lösung berücksichtigt werden. Daraus ergeben sich bauliche, fachlich-konzeptionelle, personelle und unternehmenskulturelle Entwicklungsaufgaben.

Konzeptentwicklung für die inklusive Kinder- und Jugendhilfe

Alle Leistungserbringer, die klassische Angebote der Hilfen zur Erziehung, der Kindertagesbetreuung, der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe anbieten, sind jetzt gefragt, sich ihrer Position in einer inklusiven Angebotspalette der Kinder- und Jugendhilfe bewusst zu werden und festzulegen, was sie anbieten wollen und können. Diese Entscheidung sollte nicht willkürlich erfolgen, sondern auf Basis vorhandener Konzepte und Ressourcen (IST-Analyse) sowie in enger Abstimmung mit den weiteren Akteuren der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe. Eine gemeinsame Erörterung der bestehenden Bedarfe einer Region gelingt am besten durch eine sehr gute Vernetzung. Idealerweise können bereits bestehende Beratungsgremien genutzt werden, z. B. die AG 78, um Angebot und Nachfrage abzustimmen und die Leistungslandschaft zu koordinieren. In dem Zuge können die Beteiligten zudem von ihrem gegenseitigen Fachwissen und Erfahrungen profitieren.

Dann gilt es, die bestehenden pädagogischen Konzepte detailliert in den Blick zu nehmen, um zu identifizieren, wo es Potenzial für inklusive Angebote gibt. Unter Einbezug der Mitarbeitenden, der Adressat*innen und der Bedarfe gilt es dann diese Konzepte (weiter) zu entwickeln.

Im Fokus der Konzeptentwicklung für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe sollten u.a. folgende Aspekte stehen:

  • Spezialisierung/Festlegung der Zielgruppe
  • Personalschlüssel und -qualität
  • Schutzkonzepte
  • Partizipation
  • Gemeinschaftliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Einschränkung
  • Leistungsdefinition
  • Methoden

Personalentwicklung für die inklusive Kinder- und Jugendhilfe

Im Zuge der oben beschriebenen Konzeptentwicklung sollten bereits Stellen- und Rollenbeschreibungen erarbeitet werden, so dass daraus dann Entwicklungs- und Schulungspläne für Mitarbeitende abgeleitet werden können. Denn Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sind nicht per se dafür ausgebildet, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zu betreuen, so dass ein tiefergehendes Verständnis für Bedarfslagen bei geistigen, körperlichen oder schwerstmehrfachen Behinderungen sowie die Methodenkompetenz in aller Regel zusätzlich ausgebildet werden muss. Anhand der Stellen- und Rollenbeschreibungen kann auch identifiziert werden, wo es neues Personal bzw. neue Kompetenzen braucht, sodass dann perspektivisch ein neuer Qualifikationsmix entsteht. Sozialpädagog*innen brauchen womöglich – je nach Einrichtung – Verstärkung durch Heilerzieher*innen oder auch Pflegefachfrauen/-männer. Neben der fachlichen Qualifizierung des vorhandenen und der Suche nach neuem Personal muss also auch eine Förderung der interdisziplinären Team-Arbeit stattfinden, um die unterschiedlichen Professionen in der täglichen Arbeit aufeinander abzustimmen. Wir empfehlen, die Mitarbeitenden hier frühzeitig einzubinden und so zu schulen, wie es für das spätere Angebot erforderlich ist.

Checkliste Personal

  • Frühzeitig in den Prozess einbinden/informiert halten
  • Qualifikationen und vorhandene Kompetenzen erheben
  • Schulungsbedarfe erheben und fachliche Weiterbildungen organisieren
  • erforderlichen Qualifikationsmix in Abstimmung mit dem neuen Konzept planen

Entwicklung der Unternehmenskultur für die inklusive Kinder- und Jugendhilfe

Die im Absatz Konzeptentwicklung zuletzt genannte interdisziplinäre Team-Arbeit ist ein gutes Stichwort für die nötige Kulturarbeit, die die inklusive Lösung den Organisationen abverlangt. Eine wesentliche Aufgabe der freien Träger wird es sein, die bisher recht starre Trennung der Fachlichkeiten von Kinder und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe zu überwinden. Dafür braucht es einen grundlegenden Haltungswandel aller beteiligten Akteure, denn die Zuständigkeit für Kinder mit einer Behinderung geht eben nicht aus verwaltungstechnischen Gründen zu den Jugendämtern über, sondern aus einer neuen, inklusiven Haltung heraus:

Kinder mit Behinderung sind eben vor allem eines: Kinder.

Ihre Bedarfe mögen andere sein als die von Kindern ohne Einschränkung, aber eben auch andere als von Erwachsenen mit einer Behinderung. Hinzu kommt der Wechsel von einer durch Fürsorge geprägten Mentalität hin zu einem Teilhabeangebot. Es ist eine gute Voraussetzung, dass Partizipation und Mitbestimmung in der Kinder- und Jugendhilfe bereits seit Jahren große Themen sind, jedoch zeigt sich die praktische Umsetzung in den Einrichtungen sehr unterschiedlich. Die Kulturarbeit ist ein Querschnittsthema von Konzeptarbeit und Mitarbeiterentwicklung, denn die Haltung der Mitarbeitenden gegenüber Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung wirkt sich maßgeblich auf die Qualität der späteren Leistungserbringung sowie auf die Wirkung bei den Adressat*innen aus. Doch ein Haltungswandel passiert nicht über Nacht. Er ist essenzieller Bestandteil des Change-Prozesses und ohne ihn kann eine inklusive Lösung nicht gelingen. Gefordert sind Information, Transparenz, Wertschätzung gegenüber Bewährtem und die Partizipation aller Beteiligten. Kulturarbeit erfordert immer viel Fingerspitzengefühl und sollte begleitend zu dem Organisationsentwicklungsprozess stattfinden und gleichermaßen professionell gesteuert werden. Eine Mischung aus verschiedenen Maßnahmen kann hilfreich sein, z. B.:

  • Schulungen zum zeitgemäßen Teilhabe- und Inklusionsbegriff
  • Workshops für die Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses

Für alle Kinder aus einer Hand: Inklusion gestalten

Die Branche der Kinder- und Jugendhilfe befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden und längst überfälligen Veränderungsprozess an dessen Ende als Ergebnis hoffentlich eine inklusive Kinder- und Jugendhilfelandschaft für ALLE Kinder aus EINER Hand steht. Freie Träger können hier maßgeblich zum Erfolg beitragen und sind gefordert, sich mit einer gut strukturierten und klar definierten Organisationsentwicklung inklusiv aufzustellen, um in der neuen Kinder- und Jugendhilfelandschaft nicht nur bestehen zu können, sondern diese auch maßgeblich mitzugestalten. Dies ist Aufgabe des Top-Managements, denn für einen Change dieses Ausmaßes braucht es Strategie, Ausdauer, Steuerung und Orientierung. Je partizipativer der Prozess angelegt ist, desto höher sind seine Erfolgschancen.

Wir beraten Sie gern bei Ihrer Organisationsentwicklung – ob bei einzelnen Schritten (Organisationsanalyse, Marktanalyse oder Potenziale identifizieren) oder im Rahmen eines Gesamtprozesses samt Umsetzungsbegleitung, wir sind gern Ihr Partner!

Text: Marie Kramp/Saskia Strangfeld
© G-Stock

Claudia Langholz

Portrait von Claudia Langholz, Managementberaterin, der contec

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