Prof. Dr. Christian Bernzen: „Leistungsdefinition ist heute wichtiger denn je“

Freitag, 08 März 2019 15:23

Die personenzentrierte Leistungserbringung, die durch das BTHG gefordert wird, sowie die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe haben die Trennung von Fachleistungen der Eingliederungshilfe und der Leistungen der Existenzsicherung zur Folge. Die Fachleistungen werden in den neuen Rahmenvereinbarungen der Länder-Bund-Arbeitsgruppe definiert. Darauf ausruhen dürfen sich die Leistungserbringer aber nicht, sondern müssen unbedingt eine eigene Leistungsdefinition vornehmen. „Leistungen der Eingliederungshilfe müssen von Seiten der Erbringer genau definiert werden – heute mehr denn je“, das finden Prof. Dr. Christian Bernzen, Rechtsanwalt bei BERNZEN SONNTAG, und Birgitta Neumann, Leiterin des Marktfeldes für Unternehmen der Eingliederungs- sowie Kinder- und Jugendhilfe bei contec.

Der Mensch als Experte in eigener Sache: Zur neuen Idee der Leistungstrennung

„Die alte Idee der Eingliederungshilfe entsprach einer Art all-inclusive-Paket von Seiten der Leistungserbringer, vergleichbar mit der Erziehung eines Kindes – oft gut und manchmal auch genauso bevormundend wie schlechte Erziehung sein kann“, so Prof. Bernzen. „Wenn man Menschen mit Behinderungen als selbstständige und handlungsfähige Personen ansieht, kann man so nicht weiter machen. Es braucht Autonomie, auch in einzelnen Handlungsbereichen. Die Notwendigkeit der finanziellen Unterstützung beim Kauf von Lebensmitteln oder Bekleidung hat ja zunächst nichts mit einem Bedarf an Leistungen zur Teilhabe zu tun.“ Im neuen System sollen die Leistungsempfänger möglichst umfassend selbst entscheiden können, welche Fachleistungen zur Teilhabe sie in Anspruch nehmen möchten, unabhängig von den existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe. In der Theorie ist eine solche Trennung durchaus sinnvoll, weil sie den Gedanken der Personenzentrierung stärkt – jeder Mensch weiß am besten, was er benötigt. „Für Menschen mit Behinderung und einer hohen Handlungsfähigkeit stellt das neue Modell eine Verbesserung gegenüber dem alten dar, doch nun werden wohl jene mehr Schwierigkeiten haben, die eben wenig handlungsfähig sind, nehmen Sie nur als Beispiel einen Erwachsenen mit seelischer Behinderung und darüber hinaus noch einer Intelligenzminderung“, mahnt Bernzen. Bei diesen Menschen ist unter Umständen auch die Vertragsfähigkeit nicht gegeben. Das eigenständige Bestimmen über den Leistungsbezug ist in solchen Fällen nur schwierig möglich. „Eine praxistaugliche Antwort gibt es hier in Wahrheit noch nicht“, so der Rechtsanwalt.

Leistungsdefinition: Jetzt wird genau hingeguckt!

Dass eine genaue Definition des Leistungsangebotes von Seiten der Leistungserbringer noch wichtiger ist als zuvor, zeigt sich an einem einfachen Beispiel. „Wenn ich im Restaurant etwas zu essen bestellen will, schaue ich vorher in die Karte, wähle aus und entscheide. Nach

Prof. Dr. Christian Bernzen

dem Essen werde ich gefragt, ob alles in Ordnung war. Ähnlich wird das nun bei den Menschen mit Behinderungen bzw. deren Angehörigen sein, wenn sie selbst die Leistungen einkaufen und auch sehen, was dafür gezahlt werden soll. Es ist anzunehmen, dass nun noch genauer hingeguckt wird als zuvor von den Leistungsträgern“, so Rechtsanwalt Bernzen. Das BTHG stärkt die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen und die künftige Form des Leistungsbezugs zeigt: Ab jetzt wird mehr von den Kunden und Kundinnen bestimmt, sie entscheiden für sich, ob ihnen die Leistungen passen. Entsprechend müssen die Leistungen so definiert werden, dass der Mensch sie für sich in Anspruch nehmen möchte. Selbstverständlich müssen sich Definition und Angebot aber auch decken. „Um böse Überraschungen zu vermeiden, ist es deshalb sinnvoll, auch abzustecken, was ich nicht anbieten kann und nicht immer die Botschaft zu senden ‚Wir können alles!‘“, rät Prof. Bernzen. Eine Definition der Leistungen ist also nicht bloß ein formaler Akt, sondern beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit den Inhalten. „Bislang war das kein Thema in Zeiten der ‚Zuweisung‘ oder gar ‚Belegung‘ von Plätzen jenseits der Personenzentrierung.“

Leistungsdefinition an Empfängergruppe anpassen

Eine Überarbeitung des Leistungsangebotes bietet sich vor dem Hintergrund der Personenzentrierung also ohnehin an. Müssen ggf. alte ‚exklusive‘ Leistungen über Bord geworfen werden? Wo können wir neue Leistungen erbringen? Dies ist ein Prozess, der mehr als das bloße Definieren beinhaltet. Er setzt die Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen und dem bestehenden Angebot voraus. „Wichtig ist aber auch, dass man die Leistungsdefinitionen nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich an die Empfängergruppe anpasst,“ so Bernzen. „Den ‚Branchenslang‘, der bei Verhandlungen zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern gesprochen wird, verstehen die Menschen, die nun selbst wählen sollen, unter Umständen gar nicht.“ Um die eigenständige Bestimmung über die zu erhaltenden Leistungen zu ermöglichen und zu vereinfachen, muss also auch die Formulierung der Leistungsdefinition entsprechend zielgruppengerecht vorgenommen werden – nicht nur im Sinne der Menschen mit Behinderungen, sondern auch, um sich im Wettbewerb zu behaupten.

Im Zuge der Vorbereitung und Umsetzung des BTHGs ist Obacht geboten: Wenn von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird – ein oftmals inflationär gebrauchter Begriff – dann heißt das in diesem Zusammenhang in der Tat eine Neuordnung des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses. Mussten Leistungserbringer sich bislang vor allem mit dem Kostenträger über Preise und Leistungsmengen verständigen, so sollen nun der Klient und die Klientin bestimmend sein. Wenn dieser Perspektivwechsel außer Acht gelassen wird, wird es im Prozess der Umsetzung des BTHGs auch für die Leistungserbringer zu massiven Problemen kommen.

Text: Marie Kramp
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Birgitta Neumann

Portrait von Birgitta Neumann, Marktfeldleiterin Eingliederungshilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe, der contec

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