Stresstest für die Krankenhauslandschaft in der Corona-Pandemie

Stresstest
Montag, 11 Mai 2020 14:05

Christoph Radbruch ist Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbands. Im Interview mit conZepte reflektiert er die Bedeutung der Corona-Krise als Stresstest für die deutsche Krankenhauslandschaft – und speziell das diakonische Profil.

Herr Radbruch, was bedeutet die Corona-Krise speziell für kirchliche Krankenhäuser?

Christoph RadbruchChristoph Radbruch: Ich möchte hierzu Helmut Schmidt zitieren mit dem Satz: „Charakter zeigt sich in der Krise“. Dahinter steckt eine wichtige Erkenntnis: Müssen Entscheidungen in komplexen Situationen und ohne die nötigen Informationen getroffen werden, kann der eigene Wertekanon ein guter Wegweiser sein. Abgeleitet davon könnte man auch sagen: Welche Werte uns wirklich wichtig sind, zeigt sich in der Krise. So ist die Corona-Krise auch ein Stresstest und Charaktertest für kirchliche Krankenhäuser.

Wie werden christliche Werte überhaupt in den Krankenhäusern umgesetzt?

In den Leitbildern verschiedener kirchlicher Krankenhäuser findet man einen breiten Konsens in einem herausragenden Merkmal: Nicht nur Hochleistungsmedizin und -pflege sind entscheidend, sondern der Blick auf den ganzen Menschen. Das umfasst alle körperlichen, seelischen, geistigen und spirituellen Aspekte. Hoffnungen und Ängste, Lebenshaltung und spirituelle Bedürfnisse der Menschen zählen ebenso wie die körperlichen Leiden. In der Praxis heißt das, dass persönliche Ansprache und Zuwendung, die Einbeziehung von Familie und persönlichem Umfeld sowie die würdevolle Begleitung von Sterbenden ein wichtiges Anliegen der diakonischen Krankenhäuser sind.

Stichwort Stresstest: Inwieweit können diese Werte in der Krise noch zum Tragen kommen?

Es ist auch unter normalen Bedingungen für die Führung christlicher Krankenhäuser bereits eine Herausforderung, diese Werte im Rahmen wirtschaftlicher und rechtlicher Bedingungen zu praktizieren. Das gilt dann umso mehr in der Situation der Pandemie. In komplexen Entscheidungssituationen und unter Zeitdruck können Werte miteinander in Konflikt geraten. Gleichzeitig zeigt sich hier der ,Wert von Werten‘. Diese Diskussion sollte in den Krisenstäben nicht ausgeblendet werden. Auch sollte mit Patient*innen, Angehörigen und Mitarbeitenden transparent dazu kommuniziert werden.

Können Sie ein konkretes Beispiel der Anwendung des Wertekanons im Kontext der Corona-Krise aufzeigen?

Der diakonische Wertekanon wird u. a. bei der gerechten Zuteilung von knappen Ressourcen herausgefordert. Zu Beginn der Pandemie war, mit Blick nach Italien und Spanien, die Befürchtung der Überforderung des Gesundheitswesens groß. Die Krankenhaus-Mitarbeitenden beschäftigte die potenzielle Notwendigkeit einer Triagierung, also einer Selektion, welche Patient*innen behandelt werden und welche nicht – was eine Entscheidung über Leben und Tod bedeuten kann.

Es gibt dazu hilfreiche Stellungnahmen der medizinischen Fachgesellschaften. Der Deutsche Ethikrat spricht dennoch von einer Dilemma-Situation für Mediziner*innen. Die Empfehlungen sollen daher laut Ethikrat von den Krisenstäben in den Krankenhäusern adaptiert und als verbindliche Handlungsanweisung an die Mitarbeitenden gegeben werden.

Da Patient*innen, Angehörige und Mitarbeitende allein die Möglichkeit einer Triagierung als psychisch belastend empfanden, haben einige kirchliche Krankenhäuser Netzwerke mit Ansprechpersonen gebildet – mit dem verfügbaren psychosozialen Fachpersonal. Es hat sich gezeigt: Offen über diese Belastung sprechen zu können, wirkte bereits entlastend.

Die befürchteten Zustände in den Krankenhäusern sind bisher glücklicherweise nicht eingetreten – gibt es nun veränderte Diskussionen und Themen?

Derzeit verschiebt sich der Fokus auf das ethische Dilemma „Schutz vs. Freiheitseingrenzung“. Letztere kann teilweise massiv und auch langfristig sein. Wenn es nicht möglich ist, den sterbenden Ehepartner auf der Palliativstation zu besuchen oder als Vater bei der Geburt des eigenen Kindes dabei zu sein, stößt das auf Protest.

Ulrich Lilje, Präsident der Diakonie Deutschland, hält es in diesem Kontext auch für bedeutend, dass endlich für Seelsorger*innen ausreichend Schutzkleidung bereitgestellt wird. Wie hoch Werte wie die Einbeziehung der Familie und des Umfelds sowie die würdevolle Begleitung von Sterbenden gehalten werden, zeigt sich schließlich auch an den Ressourcen, die man dafür zur Verfügung stellt.

Richten wir den Blick in die Zukunft: Welche langfristigen Auswirkungen könnten sich für die Krankenhausstrukturen und speziell die evangelischen Krankenhäuser ergeben?

Die Krise wird die Diskussion um die Reform der Krankenhausstrukturen vermutlich beschleunigen. Es gibt zwar aktuell die Hoffnung, dass die Pandemie eine Garantie für die bestehenden Krankenhausstrukturen bedeutet. Diese beruht auf der Annahme, dass die Bewältigung der Corona-Krise nur mit vielen kleinen Krankenhäusern möglich ist. Denn in dieser Konstellation haben auch Mediziner*innen und Pflegekräfte in strukturschwächeren Regionen intensivmedizinische Erfahrung. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sich diese Hoffnung erfüllen wird. Sicherlich wird weiter die leitende Handlungsmaxime gelten, dass keine offene Rationalisierung (Triage) stattfinden soll. Andererseits werden die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie die bereits knappen Ressourcen weiter radikal mindern. Dadurch wird die Frage der Versorgungseffizienz noch stärker in den Fokus rücken.

Die Politik wird insgesamt sehr genau prüfen, wer welchen Beitrag zur Bewältigung der Krise geleistet hat. Die Pandemie wird also auch die Klärung der Frage beschleunigen, was evangelische Krankenhäuser über die Bestandswahrung und Trägervielfalt hinaus für die Patientenversorgung leisten. In dieser Debatte wird es mehr brauchen als nur das Ziel, dass die evangelischen Krankenhäuser wirtschaftlich überleben.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Radbruch!

Stresstest Corona: Zu Beginn der Corona-Krise hat Christoph Radbruch bereits im contec-Podcast „Zukunft der Pflege“ eine Einschätzung zur Lage der Krankenhäuser und der bis zu diesem Zeitpunkt eingeleiteten Maßnahmen gegeben. Diese und weitere Podcast-Folgen finden Sie unter: podcast.contec.de

Interviewbearbeitung: Linda Englisch
Titelbild: © Jacob Lund