„Teilhabe ist das übergeordnete Ziel“ – Michael Schake im Gespräch über die wirtschaftliche Zukunft von WfbM
Die im September 2023 veröffentlichte Entgeltstudie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales macht es noch einmal deutlich: Auf Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) kommen große Veränderungen zu. Wie diese bewältigt werden können, bereitet vielen Werkstattleiter*innen bereits heute Sorgen. contec-Berater Michael Schake spricht mit uns darüber, was WfbM jetzt tun können und rät, die Studie als Chance zu begreifen.
Herr Schake, die neue Entgeltstudie enthält viele Handlungsempfehlungen für WfbM, die mit umfassenden Neuerungen für die Betreiber*innen einhergehen. Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen, mit denen es Werkstätten für Menschen mit Behinderungen nun zu tun haben?
Michael Schake: Eine dieser großen Herausforderungen ist die Stabilisierung des wirtschaftlichen Grundgerüsts. Viele Werkstätten ächzen bereits unter den wirtschaftlichen Belastungen der vergangenen Jahre. Die Entlohnung der Mitarbeitenden in den Werkstätten ist seit 2019 deutlich angestiegen, während die Werkstätten mit diesen Steigerungen kaum Schritt halten konnten – und es besteht Unsicherheit hinsichtlich weiterer Mindestlohnforderungen.
Hinzukommt die Forderung, die berufliche Bildung auszugliedern. Grundsätzlich steht die berufliche Bildung nicht unmittelbar in Verbindung mit der Produktion, aber die Auswirkungen auf die Werkstatt dürften doch groß sein. Denn: Ziel der Ausgliederung ist es, den Nachwuchs vorbei an den Werkstätten auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Das heißt wiederum, dass weniger Nachwuchs in die WfbM kommen wird. Die Erhöhung von betriebsintegrierten Arbeitsplätzen und Übergängen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird Ähnliches bewirken. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Forderungen sind notwendig für eine gute Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Doch man höhlt damit die Produktionsbereiche zunehmend aus. Deswegen wird es künftig für WfbM noch wichtiger sein, sich betriebswirtschaftlich neu und stabil auszurichten.
Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, bedeutet für WfbM auch, dass Leistungsträger*innen aus den Werkstätten gehen und dass der Rehabilitationsbereich größer wird – darunter wird die Produktion leiden. Stimmen Sie dem zu?
Michael Schake: Ja, dem stimme ich zu. Unter anderem deshalb rate ich Werkstätten auch – in einem ersten Schritt hin zur Neuausrichtung – Produktion und Rehabilitation wirtschaftlich getrennt voneinander zu bewerten. In vielen Werkstätten werden die beiden Bereiche gemeinsam in einer betriebswirtschaftlichen Auswertung betrachtet. Das bedeutet: Alle Einnahmen kommen in einen Topf und alle Ausgaben werden aus diesem finanziert. Das führt dazu, dass wir weder in der Rehabilitation noch in der Produktion konkrete Schwachstellen klar identifizieren können. Außerdem haben beide Bereiche ganz unterschiedliche Voraussetzungen: In der Rehabilitation ist die Mittelverwendung sehr genau definiert und auch der Leistungsträger achtet darauf, wie Mittel verwendet werden. Einen großen Spielraum, um Gewinne zu realisieren, gibt es also nicht. Dafür hat die Rehabilitation aber ein sehr niedriges Verlustrisiko – wenn sie ordentlich organisiert ist. Die Produktion wiederum ist erwerbswirtschaftlich organisiert, es gibt kaum Beschränkungen in der Höhe der Gewinne. Das heißt, Werkstätten können mit ihrer Produktion Geld verdienen – dieses Geld wird dort auch gebraucht, denn es gibt keine Finanzierung. Deshalb ist das Verlustrisiko auch um ein Vielfaches höher.
Bevor Sie zu contec gekommen sind, waren Sie als Geschäftsleiter in der Produktion einer WfbM tätig und kennen diese Probleme aus erster Hand. Sie haben zudem langjährige Erfahrungen als Geschäftsführer in der Industrie, im Marketing und Vertrieb, kennen sich in der Gestaltung von Arbeitsprozessen aus und verfügen über betriebswirtschaftliche Kenntnisse. Wie nutzen Sie Ihre Expertise, um WfbM bei der Herstellung oder Wiederherstellung einer wirtschaftlich stabilen Produktion zu unterstützen?
Michael Schake: Zuerst müssen wir das individuelle Problem einmal klar identifizieren. In Gesprächen mit Werkstattleitungen fallen oft vage Zielvorstellungen: „Die Abläufe könnten besser sein“, „wir müssen einige Verbesserungen vornehmen“ und „unsere betriebswirtschaftliche Ausrichtung ist nicht ganz optimal“ – solche Formulierungen sind keine Seltenheit. Eine Dokumentenanalyse, die Prüfung von Kalkulationsabläufen und Prozessen sowie Gespräche vor Ort sind daher zunächst wichtige Schritte. Auf Basis der Ergebnisse würde ich dann konkrete Lösungsansätze suchen.
Können Sie mögliche Lösungsansätze konkretisieren? Würde beispielsweise eine Diversifizierung im Produktionsbereich Potenzial bieten, um die Abhängigkeit von Stammkunden zu verringern?
Michael Schake: Absolut, dort könnte durchaus Potenzial liegen. Mein erster Schritt wäre jedoch, die internen Unternehmensberechnungen genauer zu analysieren und mir anzuschauen, wie der Kalkulationsprozess strukturiert ist. Oftmals erlebe ich, dass selbst bei Werkstätten mit einer breiten Aufstellung, der Kalkulationsprozess und die verwendeten Tools nicht optimal gewählt sind und vieles einfach nicht berücksichtigt wird. Dabei sollte man auch den Aufwand für die Kalkulation betrachten und sicherstellen, dass dieser angemessen ist. Die Konvertierungsrate, also der Anteil der Aufträge, die aus Angeboten resultieren, spielt dabei eine zentrale Rolle. Idealerweise sollte sie 100 % betragen, aber in der Realität liegt sie in Werkstätten oft bei 50 % – in der freien Wirtschaft ist sie noch geringer. Das könnte bedeuten, dass ein Großteil der Angebotsarbeit ineffektiv ist. Auch die Überprüfung der Stundensätze, Gemeinkostenzuschläge und regelmäßige Nachkalkulationen sind essenziell. Viele Unternehmen kalkulieren ihre Angebote einmal und gehen davon aus, dass alles passt. Jedoch offenbaren Nachkalkulationen oft Abweichungen.
Zudem sollten auch die Marketing- und Vertriebsaktivitäten durchleuchtet werden, um die richtigen Kund*innen für die eigene Produktion zu finden. Hier stoße ich häufig noch auf rudimentäre Organisationsstrukturen.
Ich würde mir auch die Arbeitsprozesse anschauen. Oft erscheinen sie oberflächlich effizient, aber eine eingehende Analyse mit arbeitswissenschaftlichen Methoden kann Schwachstellen aufzeigen, die in den meisten Fällen leicht behoben werden können. Die Diversifizierung der Angebote sollte ebenfalls kritisch beleuchtet werden. Ist es sinnvoll, viele Fachbereiche oberflächlich zu bearbeiten oder besser, sich auf wenige zu spezialisieren? Es gibt viele Ansätze, einschließlich leistungsbezogener Anreize für Mitarbeiter*innen. Entlohnungssysteme sollten nicht nur auf Einzelfähigkeiten basieren, sondern auch die kontinuierliche Leistung über mehrere Stunden berücksichtigen. Sie sehen, es gibt zahlreiche Möglichkeiten zur Optimierung.
Und besteht das Ziel für Werkstätten nicht darin, den Produktionsbereich so zu optimieren, dass maximale Erträge erzielt werden, um den Beschäftigten möglichst viel zurückgeben zu können? Das erscheint unvermeidlich, oder?
Michael Schake: Dieser Aspekt ist von entscheidender Bedeutung und wird oft als primär betrachtet, da die Produktion letztendlich auf diesem wirtschaftlich stabilen Fundament ruht. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass unser Ziel in der Produktion nicht in erster Linie darin besteht, enorme Gewinne zu generieren. Vielmehr streben wir danach, Menschen mit Behinderungen eine bestmögliche Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Das erfordert jedoch finanzielle Ressourcen, beispielsweise für die Anschaffung moderner Maschinen. Es ist daher entscheidend, betriebswirtschaftlich sauber und gewinnorientiert zu arbeiten. Jedoch stets im Bewusstsein, dass unser übergeordnetes Ziel die Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben ist.
Welchen Appell richten Sie an WfbM mit Blick auf die vielen Veränderungen, die auf sie zukommen werden?
Michael Schake: Ich möchte die Werkstätten ermutigen, die aktuelle Entgeltstudie und ihre Empfehlungen nicht als herausfordernde Hürde oder gar als Hindernis zu betrachten, sondern vielmehr als Chance und Motivation. Manchmal bedarf es nur eines kleinen Anstoßes, um die Werkstätten auf den richtigen Weg zu bringen. Diese Studie kann als Anstoß dienen, um notwendige Anpassungen und Veränderungen einzuleiten. Die anstehenden Veränderungen sollen letztendlich dem Wohl der Menschen mit Behinderungen dienen und die Teilhabe am Arbeitsplatz nachhaltig verbessern. Gerne stehen wir für Fragen zur Verfügung.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schake!
Redaktion: Katharina Ommerborn© contrastwerkstatt
Birgitta Neumann
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