Vergütungskürzungen oder Rückforderungen in der Eingliederungshilfe: Was tun?

Rückforderungen und Vergütungskürzungen
Mittwoch, 26 April 2023 17:25

Dass den Leistungsträgern der Eingliederungshilfe mit dem BTHG das Recht auf – in manchen Ländern sogar unangekündigte – Wirksamkeits- und Qualitätsprüfungen und damit auch das Recht auf Vergütungskürzungen oder Rückforderungen eingeräumt wurde, war schon bei der Einführung des neuen SGB IX umstritten und hat für Unruhe in der Branche gesorgt. Mit einigem Erstaunen liest man im Gesetz auch noch, dass die Parteien sich über den Kürzungsbetrag einigen sollen. Unklar war und ist in Teilen bis heute wie, wann und in welchem Umfang Leistungsträger von ihrem Recht Gebrauch machen – bzw. ihrer Pflicht nachkommen, denn es ist ihr gesetzlicher Auftrag – und wie man sich am besten als Leistungserbringer darauf vorbereitet. Was sich bislang in unserer Beratung zeigt, ist folgendes: Leistungsträger kommen (in manchen Bundesländern eben auch unangekündigt) zur Prüfung und stellen in dem Zuge häufig fest, dass der Leistungserbringer gegen gesetzliche Regelungen oder Vertragsbestandteile verstößt. Das kann zum Teil zu hohen Rückforderungen oder Vergütungskürzungen bis hin zu Anzeigen wegen Abrechnungsbetrug führen. Unsere Sozialrechtsexpertin Heike Brüning-Tyrell erklärt, wie Sie „vertragstreu“ handeln und so finanzielle Nachteile vermeiden und was zu tun ist für den Fall, dass bereits Vorwürfe im Raum stehen.

„Aus Versehen“ gegen den Vertrag verstoßen: Drohen Rückforderungen oder Vergütungskürzungen?

Heike Brüning-Tyrell kennt und versteht als Sozialrechtsexpertin mit Erfahrung sowohl bei Leistungserbringern und als Anwältin als auch in der Arbeit bei einem großen Träger der Eingliederungshilfe alle Seiten des Sozialrechtlichen Dreiecks. Sie weiß, dass Wirksamkeits- und Qualitätsprüfungen nach § 128 SGB IX und daraus möglicherweise resultierende Vergütungskürzungen oder Rückforderungen nach § 129 SGB IX Leistungserbringer beunruhigen können. „Unsere Praxis zeigt, dass Leistungserbringer in der Regel nicht vorsätzlich gegen ihre Verträge mit den Leistungsträgern verstoßen, sondern dass eine ungünstige Mischung, z. B. aus unzulänglicher Dokumentation und unklarer Personalausstattung dazu führt. Manchmal wurden schlichtweg bestimmte notwendige Anpassungen noch nicht vorgenommenen, nicht nur im Zuge der BTHG-Umsetzung. Häufig sind bestehende Strukturen noch älter, weil Vereinbarungen über Jahrzehnte pauschal fortgeschrieben wurden“, so Heike Brüning-Tyrell. „Wenn man nie ganz sicher ist, ob man alle aktuellen Auflagen erfüllt, fühlt sich die Möglichkeit für unangekündigte Prüfungen an wie das sprichwörtliche Damokles-Schwert, das über einem hängt.“ In anderen Fällen kennen die Leistungserbringer ihre bestehenden Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nicht in allen Einzelheiten und wiegen sich in Sicherheit, ganz nach dem rheinischen Motto: „Et hätt noch immer jot jejange“ – und das nicht nur im Rheinland. Ein fataler Fehler, wie sich in einigen Fällen bereits gezeigt hat. So prüfen die Leistungsträger z. B., ob der Leistungserbringer ausreichend qualifiziertes Personal vorhält, um die vertraglich vereinbarten Leistungen auch ordnungsgemäß erbringen zu können. Das zeigt ein Fall aus unserer Beratung: Bei einem Kunden bestand seitens des Leistungsträgers – wie sich nach unserer Berechnung hinterher rausstellte allerdings zu Unrecht – der Verdacht, dass der Leistungserbringer deutlich zu wenig Personal vorhalte. Der Verdacht konnte zwar mit einigem Aufwand weitestgehend widerlegt werden, aber da der Leistungserbringer sich selbst nicht ganz sicher war, ob er gegen den Vertrag verstößt oder nicht, ist wertvolle Zeit vergangen. Aufgrund der Tragweite stand kurzfristig sogar eine Strafanzeige wg. Abrechnungsbetrug im Raum. „Weitere Fälle neben der Personalausstattung, die wir aus der Beratung kennen und die zu Rückforderungen führen können, sind die Dokumentation, die mit Blick auf den Wirksamkeitsnachweis immer wichtiger wird, und auch so scheinbar banale Dinge wie die Dienstplanung, ordnungsgemäße Quittierungen und darauf basierende Abrechnungen“, so Heike Brüning-Tyrell.

Tipp 1: Verträge kennen und verstehen, Handlungsbedarfe ableiten

„Auch wenn die Prüfungen aktuell zum Teil noch willkürlich erscheinen mögen, Vertrag ist Vertrag und den müssen Leistungserbringer erfüllen“, so die Sozialrechtsexpertin. Ihr Tipp für alle, die auf Nummer sicher gehen wollen: Die Verträge genau studieren und ggf. mit alten Verträgen vergleichen. Was hat sich unter Umständen seit der Umstellung auf das BTHG geändert? Wo besteht Handlungsbedarf, weil Anpassungen noch nicht vorgenommen wurden? Und wie sieht es mit den unterschiedlichen Haftungsebenen aus? Das Management sollte hier kritisch hinschauen, denn Vergütungskürzungen nach Prüfungen gem. § 129 SGB IX sind ein sozialrechtliches Verfahren mit einem Einigungszwang, bzw. einem Weg zur Schiedsstelle, aber im Bereich der Vertragstreue sind auch schnell zivilrechtliche Verfahren (z. B. Schadensersatzforderungen wegen Haftungsfällen) oder gar strafrechtliche Verfahren (z. B. Abrechnungsbetrug) auf der Agenda.

Tipp 2: Neuralgische Punkte genauer unter die Lupe nehmen

Personalausstattung

Um eine personenzentrierte Leistungserbringung abbilden zu können, braucht es häufig personelle Umstrukturierungen, Veränderungen am Qualifikationsmix oder an der Menge des Personals. Möglicherweise wurde aber auch in den letzten Jahren der Abgleich zwischen dem refinanzierten Personal und dem vorhandenen Personal nicht regelmäßig vorgenommen, da keine Einzelverhandlung stattgefunden hat, die dies notwendig gemacht hätte. Ein genauerer Blick auf die aktuelle personelle Lage bietet sich also an. „Und erfüllt man dann die personellen Auflagen, ist Transparenz wichtig“, so Heike Brüning-Tyrell. Will man als Leistungserbringer solchen Fällen wie oben geschildert vorbeugen und auf Anhieb nachweisen können, dass man ausreichend Personal in der benötigten Qualität vorhält, so braucht es geeignete Gegenüberstellungen von vereinbarten und vergüteten Leistungen, den dafür benötigten Stellenanteilen, den Bedarfen der Kund*innen aus den Gesamtplänen und dem vorgehaltenen Personal inkl. Qualität. So eine Aufstellung kann den Verdacht der Unterbesetzung schnell entkräften bzw. offenlegen, ob ggf. wirklich Personal fehlt oder die Qualität nicht ausreicht. Die Einrichtung kann dann entsprechende Maßnahmen ergreifen.

Dokumentation und QM

Die Dokumentation ist im Alltag der Einrichtungen häufig ein leidiges Thema, wird aber im Zuge des Wirksamkeitsnachweises immer wichtiger. Denn auch, wenn die individuelle Wirkung von durchgeführten Leistungen nicht Bestandteil der Wirksamkeits- und Qualitätsprüfungen ist und somit auch keine Rückforderungen drohen, falls die erwartete Wirkung im Einzelfall ausbleibt, so ist der Wirkungsnachweis doch mittelbar auch für den Wirksamkeitsnachweis relevant. So sehen es auch die Leistungsträger: Wirkung ist laut der BAGüS Orientierungshilfe zu Prüfungen nach § 128 SGB IX, Stand Januar 2021 von Interesse bei der Wirksamkeitsprüfung, „da die Summe der in Gesamtplänen durchgeführten Wirkungskontrollen Aussagen über die Ergebnisqualität und Wirksamkeit einer Leistungserbringung zulässt“. Die dringende Empfehlung unserer Expertin lautet daher: Prüfen Sie Ihre ‚Dokumentationstraditionen‘ und ersetzen Sie sie möglicherweise durch eine neue Strategie, die klare Parameter für die an den erbrachten Leistungen und angewandten Methoden ausgerichtete Dokumentation beinhaltet. Insbesondere im ambulanten Bereich sind Quittierungen der Leistungen durch die Leistungsberechtigten vorgesehen. Diese müssen selbstverständlich immer mit den Leistungsdokumentationen in Einklang stehen. Binden Sie Ihre Mitarbeitenden im Umstellungsprozess mit ein, denn Quittierungen und Dokumentation werden im engen Dienstplan-Korsett häufig als lästige Zusatzaufgabe angesehen. Sind Mitarbeitende aber an der Entwicklung neuer Standards beteiligt, werden sie diese auch eher im Alltag anwenden. Den Mitarbeitenden muss die Relevanz von QM und Dokumentation deutlich werden. Es geht nicht um einen bürokratischen Selbstzweck, sondern um die kontinuierliche Verbesserung der Teilhabeleistungen, Steuerung der Leistungserbringung und damit im Endeffekt um die wirtschaftliche Sicherung der Einrichtung.

Vergütungskürzungen oder Rückforderungen bei Vertragsverstößen

Aber nicht nur bei den oben genannten Beispielen für Vertragsverstöße aus unserer Beratungspraxis sind Vergütungskürzungen möglich. Auch die Qualität der Leistungserbringung spielt eine maßgebliche Rolle. In der „Orientierungshilfe der BAGüS zur Durchführung von Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit nach § 128 SGB IX“ wird die Qualität in die drei Dimensionen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität eingeordnet. Hier heißt es zur Qualität der Leistungen:

Die Qualität der Leistungserbringung in der Eingliederungshilfe bemisst sich am Grad der Übereinstimmung zwischen den in den Landesrahmenverträgen und den Leistungsvereinbarungen (§ 125 SGB IX) formulierten Qualitätsstandards und deren tatsächlicher Umsetzung. Ein wesentliches Ziel von Qualitätsprüfungen ist die Herstellung, Weiterentwicklung und Sicherung der vertraglich vereinbarten Qualität. Impulse dazu können sich u.a. aus festgestellten Mängeln sowie im Rahmen der Fachberatung von Leistungserbringern ergeben.“ (BAGüS Orientierungshilfe Prüfungen nach § 128 SGB IX Stand: Januar 2021, S. 2f.)

Weitere Qualitätsmerkmale bei Wirksamkeitsprüfungen

Mit den beiden Faktoren Personalausstattung und Dokumentation haben wir uns vor allem auf die beiden Ebenen der Struktur- und Prozessqualität fokussiert. „Hier steckt unseres Erachtens und unserer Erfahrung nach besonders viel Potenzial für ‚versehentliche‘ Vertragsbrüche“, so Heike Brüning-Tyrell. In allen Bereichen gibt es weitere relevante Faktoren, die geprüft werden müssen. So nennt die BAGüS für den Bereich Strukturqualität u. a. die Infrastruktur und sächliche Ausstattung, das Angebot an Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Supervision etc. oder auch die Erreichbarkeit der Leistungen für die Leistungsberechtigten. Im Bereich Prozessqualität nennt sie u. a. eine Personalplanung mit Bezugsbetreuungssystem, Definition von Schlüsselprozessen, Umgang mit personenbezogenen Daten, Umsetzung der Gesamtplanung der Leistungsberechtigten, konzeptionell verankerte Sozialraumorientierung, Partizipation und Konzeption. Für den Bereich Ergebnisqualität seien hier exemplarisch aus der Orientierungshilfe der BAGüS die Zufriedenheit der Leistungsberechtigten, deren Erreichung der Ziele und die Verbesserung der Lebensqualität und Teilhabe der Leistungsberechtigten genannt.

Was tun bei akuten Vergütungskürzungen oder Rückforderungen?

Damit ist klar: Immer, wenn die vertraglich geschuldete Leistung nicht nachweislich erbracht ist mit allen Nebenabreden und gesetzlichen Verpflichtungen aus dem SGB IX, so droht eine Vergütungskürzung oder eine Rückforderung von zu viel gezahlten Vergütungen. Sollten Sie sich in der Situation wiederfinden, dass der Leistungsträger Ihnen mit Rückforderungen oder Kürzungen droht, sollten Sie klaren Kopf bewahren. Zunächst ist es hier sinnvoll, die Vermutungen des Leistungsträgers zu prüfen und sich den Vertrag genau anzusehen. Es besteht auch immer noch die Chance, dass die Vermutungen falsch sind und Sie das belegen können. Sollten Sie feststellen, dass die Anschuldigungen zutreffen, ergreifen Sie so schnell wie möglich die nötigen Maßnahmen, um die Fehler abzustellen und kommunizieren Sie dies möglichst offen mit dem Leistungsträger. Bei Vergütungskürzungen nach einer Wirksamkeits- und Qualitätsprüfung ist nämlich Einvernehmen zwischen Ihnen und dem Leistungsträger über den konkreten Betrag herzustellen. Da hilft eine unverzügliche Mängelbehebung und klare transparente Kommunikation mit dem Leistungsträger schon sehr weiter. Um in Zukunft vertragstreu zu handeln, sollten alle Maßnahmen dafür nachhaltig wirken (z. B., wenn es um die Umstellung der Dokumentation oder die Einstellung von geeignetem Personal geht). Falls auch Ihnen Rückforderungen oder Vergütungskürzungen drohen oder Sie sich unsicher über die bestehende Vertragslage oder Ihre Haftungsrisiken sind, steht contec Ihnen gern zur Seite. Wir beraten Sie juristisch in vertragsrechtlichen Fragestellungen oder bei der Identifizierung und Umsetzung notwendiger Maßnahmen für das vertragskonforme Handeln.

Text: Heike Brüning-Tyrell/Marie Kramp
© rachaphak

Heike Brüning-Tyrell

Portrait von Heike Brüning-Tyrell, Managementberaterin, der contec

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