Die Zukunft der Pflege regional denken – Beispiele aus der Praxis

Freitag, 17 Dezember 2021 09:10

Regionale Projekte und Konzepte zielen darauf ab, Herausforderungen in der Pflege, die durch den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel in Deutschland entstehen, zu überwinden. In diesem Beitrag stellen wir Ihnen einige dieser Ansätze vor.

Die Pflege in Deutschland steht vor enormen Herausforderungen: Eine alternde Bevölkerung trifft auf zu wenige Pflegekräfte. Schon jetzt sagen Berechnungen voraus, dass im Jahr 2030 bis zu 500.000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen werden, gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegebedürftigen immer stärker an [1]. Um den daraus entstehenden Problemen für die Gesellschaft etwas entgegenzusetzen braucht es einen Umbau der Pflegelandschaft – und zwar so schnell wie möglich. Denn die drohende Versorgungslücke kann nicht nur über mehr Personal, das ohnehin schwierig zu bekommen ist, gestemmt werden. Es braucht Lösungen darüber hinaus.

Wie kann also ein solcher Paradigmenwechsel gestaltet werden? Eine mögliche Antwort: Den Regionalitätsgedanken in der  Pflege zu stärken. Auch wenn der demografische Wandel und der Fachkräftemangel die gesamte Bundesrepublik betreffen, gibt es doch große lokale Unterschiede in der Altersverteilung der Bevölkerungen und der Anzahl an verfügbarem Pflegepersonal. Regionale Konzepte können auf diese Unterschiede reagieren und bedarfsorientierte Lösungen anbieten.

Es gibt Modelle, aber es braucht mehr

Unsere Nachbar*innen in den Niederlanden haben es bereits gezeigt: Ein Strukturwandel in der Pflege ist möglich. Das Buurtzorg®-Modell hat die ambulante Pflege in den Niederlanden in den letzten Jahren grundlegend verändert. Eigenverantwortlichkeit, Nachbarschaftlichkeit und die Hilfe zur Selbsthilfe stehen im Fokus des Modells. Aber auch hier in Deutschland gibt es vielversprechende Ansätze, die auf regionale Pflegekonzepte setzen – allerdings konnten sie sich bisher nicht im größeren Rahmen durchsetzen. Meist handelt es sich um Modellprojekte und Förderprogramme, die

  • entweder vom Bund oder den Ländern unterstützt werden,
  • von Kommunen ins Leben gerufen werden oder
  • innerhalb der Pflege entstehen.

Was sie alle deutlich machen: Es gibt gute Ideen, um die Pflege in Deutschland zukunftsfähig zu machen. Doch sie werden noch zu selten in der Praxis genutzt und Lösungen gehen oft nicht über einzelne Modellvorhaben hinaus. Dabei sollten Modelle, die erfolgreich abgeschlossen und bedarfsorientiert entwickelt wurden, unbedingt auch in der Pflegepraxis umgesetzt werden. Dafür müssen die nötigen Rahmenbedingungen vom Gesetzgeber geschaffen werden.

Der Bund fördert regionale Pflege

Region Gestalten

Das Forschungsprojekt Stärkung von bedarfsorientierten Pflegestrukturen in ländlichen strukturschwachen Regionen wurde innerhalb des Förderprogramms Region gestalten des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in diesem Jahr auf den Weg gebracht. Der Fokus des Projekts liegt auf der Verbesserung der Versorgungs- und Pflegestrukturen auf dem Land. Ziel ist es vor allem, einen strategischen Leitfaden und praxisnahe Lösungen für regionale und kommunale Akteur*innen in ländlichen Räumen zu entwickeln. In einem ersten Schritt werden basierend auf Recherchen, Befragungen und Fallstudien Bedarfe sowie regional verfolgte Ansätze zur Stärkung der Pflegestrukturen bundesweit in Landkreisen und Kommunen ermittelt. Danach folgt die Erstellung eines praxisnahen Leitfadens, der auf den gewonnenen Erkenntnissen aufbaut, alle Akteur*innen miteinbezieht und schlussendlich als Hilfestellung zur strategischen Planung von regionalen Pflegestrukturen dienen kann.

Plattform Pflegenetzwerk

Auch die vom Bundesministerium für Gesundheit ins Leben gerufene Initiative Pflegenetzwerk Deutschland fördert den Austausch und die Entstehung guter Ideen für die Pflege. In Online-Beiträgen, Online-Praxisdialogen, Video-Interviews mit Expert*innen und Erfahrungsberichten werden Handlungsvorschläge zur Verbesserung der Pflegesituation in Deutschland vorgestellt, diskutiert und entwickelt. Die Themen setzt das Netzwerk selbst. Einer der Schwerpunkte: Wie man regionale Pflege aufbaut. In Blogbeiträgen werden Ideen diskutiert, Leitfäden aufgesetzt und Expert*innen geben Praxistipps für die Gründung regionaler Unterstützungsnetzwerke. Außerdem findet man Informationen zu Förderprogrammen.

  • Neben der regionalen Pflege beschäftigt sich das Pflegenetzwerk auch mit anderen Themenschwerpunkten wie u. a. der Pflegeausbildung, Arbeitsbedingungen in der Pflege, Demenz und psychischer Belastung von Pflegenden. Die Plattform ist Ende März 2020 entstanden und hat rund 8.800 Mitglieder.

Während diese Programme zunächst auf die theoretische Entwicklung von Ansätzen und Handlungsempfehlungen setzen, die dann als Best Practice vor Ort Hilfestellungen geben sollen, wird schon an einigen Orten regionale Pflege praktisch umgesetzt – z. B. im Rahmen von Quartiersprojekten und regionalen Netzwerken.

Land und Kommunen: Ein Quartier zum Altwerden

Pflege vor Ort

In den Ländern, Städten und Landkreisen tut sich einiges in Sachen regionaler Pflege: Das Land Brandenburg fördert mit dem Programm Pflege vor Ort seit April 2021 Kommunen beim Ausbau von alters- und pflegegerechten Sozialräumen. Auch hier steht die Regionalität im Vordergrund: Kommunen werden z. B.

  • beim Aufbau alltagsunterstützender Angebote,
  • bei der Entwicklung von Nachbarschaftshilfen,
  • bei der Etablierung von lokalen Projekten oder
  • bei der Organisation von Pflegekursen für Angehörige oder Informationsveranstaltungen unterstützt.

Das Projekt stellt den Quartiersgedanken in den Vordergrund, also den Aufbau von sozialen Räumen als Unterstützungsnetzwerke für pflegebedürftige Personen. Ziel ist es, dass Pflegebedürftige in den Quartieren ein so gut wie möglich selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. Um das zu schaffen, gibt es im Quartier ein kooperierendes Netzwerk aus professionellen Dienstleistungen sowie ehrenamtlichem Engagement und lokaler Nachbarschaftshilfe [2].

WohnPunkt Rheinland-Pfalz

Mit dem Beratungs- und Unterstützungsangebot WohnPunkt RLP fördert das Land Rheinland-Pfalz Projekte zum Wohnen mit Teilhabe, in Ortsgemeinden und Kleinstädten bis 10.000 Einwohner*innen. Im Fokus steht dabei die soziale Einbindung und Teilhabe von älteren Menschen und Menschen mit Unterstützungsbedarf. Gemeinsam mit den Verantwortlichen vor Ort entstehen so passgenaue und innovative Wohnangebote, die barrierefreies Wohnen, nachbarschaftliche Hilfe und professionelle Unterstützungsstrukturen für die Betroffenen verbinden. Ziele sind u. a., die Mitsprache und Mitwirkung Pflegebedürftiger an der eigenen Lebensgestaltung auch im hohen Alter zu ermöglichen sowie die soziale Einbindung durch ehrenamtliche Nachbarschaftshilfen, Begegnungstreffs und Tagesangebote zu fördern.

Das Dorf Vrees

Ein Quartier zum Altwerden – auf dieses Konzept setzen derzeit eine Reihe von Modellen und Projekten für die Pflege. Auch die Gemeinde Vrees in Niedersachsen baut seit Jahren ein Unterstützungsnetzwerk für die ambulante Pflege auf. „Wir waren der Meinung, dass es nicht sein kann, dass jemand, der sein Leben lang das Dorf mitgestaltet hat und sich eingebracht hat, dass er dann, wenn er die Hilfe der Dorfgemeinschaft braucht, das Dorf verlassen muss!“, so Heribert Kleene, Bürgermeister von Vrees. Im Ortskern hat das Dorf einen Häuserkomplex für altersgerechtes Wohnen errichtet: 70 qm Wohnfläche, voll digitalisiert. Kümmerer helfen den pflegebedürftigen Personen bei Alltagsproblemen. Im Bürgerhaus wird die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe koordiniert und ältere Menschen können dort zusätzlich zweimal die Woche betreut werden.

Im Sommer 2021 ist zusätzlich ein Pflegehaus, in das Bewohner*innen ab Pflegegrad 2 einziehen können, entstanden. Das Miteinander steht im Vordergrund: Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, jede*r darf sich einbringen. Doch auch für junge Familien tut Vrees einiges: Ganztagsbetreuung in Kindergärten und Schulen, ein Sport- und ein Spielplatz im Ortskern. Außerdem Bauplätze für Einfamilienhäuser. So will die Gemeinde Vrees einen Sozialraum erschaffen, in dem Jung und Alt zusammenleben und einander unterstützen. Das Projekt wird von der EU, dem Bund, dem Land Niedersachsen und dem Landkreis Emsland gefördert und wurde schon mehrfach ausgezeichnet.

Die Pflege setzt sich ein: Regionale Initiativen aus der Praxis

Einrichtungsleiter*innen, Pflegekräfte, Ärzt*innen – Menschen, die sich fast jeden Tag in den Pflegestrukturen bewegen, wissen genau, wo Herausforderungen bewältigt werden müssen und welche Lösungen notwendig sind. Deshalb sind in den letzten Jahren auch regionale Projekte aus der Pflege heraus entstanden.

Regionales Pflegekompetenzzentrum (ReKo)

Das Modellprojekt Regionales Pflegekompetenzzentrum (ReKo) wird seit 2019 in den Landkreisen Emsland und Grafschaft Bentheim unter Leitung der Gesundheitsregion EUREGIO, der Universität Osnabrück und der DAK-Gesundheit durchgeführt. Im Rahmen des Innovationsfonds wird das Projekt von der Bundesregierung gefördert. Das Hauptziel: die Pflegesituation auf dem Land verbessern. Das soll durch die Zusammenführung aller relevanten Akteur*innen – u. a. Ärzt*innen, Pflegedienste und Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen – auf einer zentralen digitalen Plattform sowie mit Case Manager*innen, die vor Ort die persönliche Koordination für Pflegebedürftige übernehmen, geschehen. Case Manager*innen sind pflegerisch oder medizinisch ausgebildete Unterstützer*innen, die die Region und ihre Menschen kennen. Sie helfen den Pflegebedürftigen als direkte Ansprechpartner*innen bei der Planung und Koordination ihrer Pflege. Im ReKo sollen alle wichtigen Kompetenzen in einer zentralen Beratung gebündelt und gleichzeitig individuelle Hilfen für die ambulante Pflege möglich gemacht werden. Dabei setzt das Projekt darauf, die vorhandenen Strukturen der jeweiligen Region durch Zusammenarbeit zu stärken.

Schmallenbach-Verbund

In Fröndenberg engagiert sich seit vielen Jahren der Schmallenbach-Verbund aktiv für die Entstehung eines Sozialraums. Seit 2007 wurde deshalb nicht nur das Pflegeangebot in der Region massiv gestärkt:

  • Neue Beratungsangebote
  • Einrichtungen für die Tagespflege
  • Gründung eines Integrationsbetriebs und eines Pflegediensts
  • Bau von 18 Service-Wohnungen
  • Eine Spezialeinrichtung für Menschen mit komplex-herausforderndem Verhalten
  • Erweiterung der Angebote vom Hirschberg in Fröndenberg in die Fröndenberger City (Haus Hubertia) sowie nach Menden (Quartier „Wohnpark Holzener Heide“)

Und das sind nur einige der Neuerungen, die der Verbund für die Pflege in Fröndenberg und Region angestoßen hat. Geschäftsführer Heinz Fleck hat eine Vision: „Ein Quartier am Rande der Stadt mit öffentlichen Angeboten für Jung und Alt – das ist unsere Zukunftsversion für den Fröndenberger Hirschberg. Deshalb ist dort 2020 neben den vielen Angeboten für pflegebedürftige Senior*innen auch eine Kindertageseinrichtung entstanden. Auch ein Therapiezentrum ist in Planung, eine erste Praxis gibt es schon“, erklärt er stolz. Mit einem Café mit Ausblick ins Sauerland, einem Klang- und Bewegungsweg sowie einem Tierpark soll das Quartiersangebot abgerundet werden. „Die Bedarfe und Wünsche der Menschen haben sich stark gewandelt. Soziale Dienstleistungen müssen dem gerecht werden. Für unsere Mitarbeitenden sind wir außerdem als durchlässiger Träger mit vielfältigen Angeboten viel attraktiver, weil wir auch mehr Entwicklungsmöglichkeiten anbieten können“, so Fleck.

Pflege zusammen neu denken

Politik, Forschung, Pflege – sie alle arbeiten zusammen daran, Pflegebedürftigen und Pflegekräften in Deutschland auch in Zukunft gute Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen. Einzelprojekte und Modellvorhaben reichen jedoch nicht aus, um die Pflegelandschaft grundsätzlich zu erneuern und umzugestalten. Doch genau das braucht die Pflege jetzt: Einen Paradigmenwechsel hin zu mehr

  • Regionalität,
  • Kooperation,
  • digitalen Angeboten,
  • Ehrenamt und
  • Nachbarschaftlichkeit.

Wir diskutieren mit Vertreter*innen der Politik sowie Akteur*innen der Pflegebranche und mit Ihnen – beim digitalen Auftakt zum 18. contec corum Pflege und Vernetzung, u. a. auch zu den Fragen: Wie kann regionale Pflege gestaltet werden? Was muss der Gesetzgeber tun? Wie entkommen wir dem „Teufelskreis“ aus Modellprojekten und -vorhaben? Seien Sie am 12. Januar 2022 dabei und melden sich jetzt hier an.

 

[1] Stern (2021): https://www.stern.de/gesundheit/pflegepetition/pflegenotstand–jetzt-muss-die-kommende-regierung-liefern-30828016.html

[2] Mit Pflege leben: https://mitpflegeleben.de/themen-des-monats/altersgerechte-quartiere-zu-hause-alt-werden/

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Text: Katharina Ommerborn
©Gecko Studio/Adobe Stock

Detlef Friedrich

Portrait von Detlef Friedrich, Geschäftsführer, der contec GmbH

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