4 Fragen an den Experten: Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten während Corona

Herausforderndes Verhalten
Freitag, 15 Mai 2020 13:25

Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus treffen besondere Wohnformen der Eingliederungshilfe besonders stark. Schließung der Werkstätten, Besuchs- und Kontaktverbote, ein Wegbrechen der gewohnten Strukturen sowie Verunsicherung in der Mitarbeiterschaft können insbesondere für Menschen mit einer psychischen Erkrankung und verhaltensauffällige Menschen mit Behinderung sehr schwer sein. Wir haben mit Eckhard Sundermann, Managementberater bei contec, über die Besonderheiten in der Betreuung dieser Klientel während der Pandemie und darüber hinaus gesprochen und ihn gefragt, was Mitarbeitende jetzt besonders dringend brauchen.

Herr Sundermann, herausforderndes Verhalten ist in der Betreuung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung kein seltenes Phänomen. Haben Sie den Eindruck, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie solches Verhalten in Wohneinrichtungen für diese Menschen verschärfen?

Das ist schwer pauschal zu beantworten. Aber wenn ich eine Tendenz abgeben wollte, würde ich sagen, das hängt von der Phase der Krise ab. In der Anfangszeit des Lockdowns hat sich in Einrichtungen, mit denen ich in Kontakt stehe, eher ein Rückgang von herausforderndem Verhalten abgezeichnet. Bei einer äußeren Bedrohung wie einem Virus reagieren Menschen wie es scheint alle sehr ähnlich, das schweißt zusammen. Es ist sehr interessant, dass Menschen mit Psychosen, bei denen Angst ja ein ganz entscheidender Faktor der Störung ist, plötzlich weniger psychotische Züge zeigen und die Angst ‚realistischer‘ wird. Menschen mit einer geistigen Behinderung reagieren ebenso sehr sensibel auf eine solche äußere Bedrohung. Wenn deren Vertrauenspersonen, die Mitarbeitenden in der Wohneinrichtung, plötzlich alarmiert sind und zur Vorsicht aufrufen, dann kann sich das durch „Gefühlsansteckung“ auf die Bewohner*innen übertragen.

Und wie sieht es jetzt aus, wo die ersten Lockerungen ins Haus stehen beziehungsweise schon begonnen haben?

Naja, das ist ja etwas paradox. Es gab zwar erste Lockerungen, aber es wird keineswegs Normalität hergestellt, das sieht man ja auch an den Protesten in der Gesellschaft. Die erste Panik ist vorbei und da, wo Menschen ohne Behinderungen oder psychische Erkrankungen ungeduldig werden, können auch Menschen mit einer Psychose wieder anfälliger werden, z.B. gegenüber „Verschwörungstheorien“, und dann kann das in der Tat schnell zu einem Wiederaufleben herausfordernden Verhaltens führen. Das ist aber auch unabhängig von der Corona-Krise immer ein Phänomen, mit dem man in der Arbeit mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung und teilweise ja auch mit geistigen Behinderungen zu tun hat. Den richtigen Umgang damit sollte man Mitarbeitenden in Einrichtungen also unabhängig von der Krise unbedingt nahebringen.

Was raten Sie Einrichtungen, die jetzt verstärkt mit herausforderndem Verhalten bei der Klientel zu tun haben?

Ganz wichtig ist es, den Menschen zusätzliche Räume für Aktionen aber auch  Rückzug zu schaffen, denn das Gefühl von Enge kann gerade bei Psychosen ein Trigger für herausforderndes Verhalten sein. Wenn ein Außengelände vorhanden ist, sollte man dort Raum zum Austoben schaffen, aber auch Projekte wie kleine Videos und andere Kreativ- und Sportprojekte können hilfreich sein (natürlich auch unabhängig von Corona). Eine Einrichtung, die ich kenne, überlegt z. B. einen kleinen Steinbruch in der Nähe als Treffpunkt für ihre „jungen Wilden“ zu nutzen. In der Regel sind ja nicht alle Bewohner*innen einer Einrichtung herausfordernd. Die, die sich mit der Situation besonders schwertun, können eine individuelle, intensivere Betreuung bekommen, z. B. durch Personal, das sonst in Werkstätten eingesetzt ist. Außerdem sollte man immer schauen, ob es jemanden im Team gibt, der besonders guten Zugang zu einer solchen Person hat und insbesondere in der jetzigen Situation als Vertrauensperson, als ruhender Pol fungieren kann.

Für die Mitarbeitenden ist der Austausch über die Situation und das persönliche Befinden sehr wichtig. Darüber hinaus kann es sehr hilfreich sein, wenn eine Einrichtung ihnen telefonische Beratung, Coaching bzw. Supervisionen anbietet und zwar anonymisiert. Allein das Wissen darüber, dass da jemand Außenstehendes ist, dem ich mein Leid klagen, der mir aber unter Umständen auch fachliche Tipps geben kann, ist eine große Entlastung für Mitarbeitende in dieser schweren Situation.

Aber grundsätzlich gilt: Herausforderndes Verhalten kommt zu allen Zeiten vor und ein richtiger Umgang damit ist unglaublich wichtig. Leider erfahre ich immer wieder, dass Mitarbeitende Schwierigkeiten damit haben. Das führt dann zu Krankheit und emotionalem Stress im Team und zu Teamkonflikten bis hin zu mangelnder Qualität in der Förderung der dort anvertrauten Personen. Der Grund dafür liegt vor allem in fehlender Kenntnis über psychiatrische Krankheitsbilder sowie in einem Mangel an Resilienz, kurz: Die Mitarbeitenden nehmen bestimmte Verhaltensweisen zu persönlich.

Sie sind Coach für Einrichtungen der Eingliederungshilfe und schulen dort Mitarbeitende über eben diese Krankheitsbilder und den Umgang mit herausforderndem Verhalten. Was empfehlen Sie?

Zunächst einmal muss ein Grundverständnis über die psychiatrischen Krankheitsbilder einer Einrichtung und die möglichen Verhaltensweisen, die damit einhergehen, bei allen Mitarbeitenden geschaffen werden. Erklärungsmuster für bestimmte Verhaltensweisen und das Wissen darüber, dass dieses Verhalten sich nicht gegen den oder die Mitarbeitende persönlich richtet, sondern lediglich der Versuch ist, mit sich und der Situation umzugehen – diese Menschen können oft gar nicht anders – begünstigen Resilienz. Fehlt das Fachwissen darüber, so ziehen Mitarbeitende vermeintliches Wissen aus ihren Erfahrungen beispielsweise mit den eigenen Kindern heran: ein fatales Missverständnis. Wenn ich herausforderndes Verhalten nicht mehr auf mich beziehe, tangiert es mich emotional nicht mehr so sehr. Das ist die Basis. Darauf aufbauend brauchen Mitarbeitende klare Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Menschen, die gerade hocherregt sind, beispielsweise: Abstand halten (in Corona-Zeiten ohnehin wichtig!), persönlichen Raum lassen, nicht frontal gegenüberstehen, sondern etwas seitlich aus einem 90-Grad-Winkel mit der Person sprechen oder Ähnliches. Verschiedene Krankheitsbilder kommen mit verschiedenen Arten von herausforderndem Verhalten. Das Studium oder eine Ausbildung können Mitarbeitende unmöglich auf alle Einzelheiten vorbereiten, deshalb können einrichtungsindividuelle Schulungen hilfreich sein, die die Eigenheiten der Bewohner*innen berücksichtigen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Sundermann!

Eckhard Sundermann ist Diplom-Psychologe und war über mehrere Jahrzehnte Geschäftsführer bei der Diakonie Ruhr für den Bereich der Eingliederungs- und der Kinder- und Jugendhilfe und hat in dieser Zeit viele Einrichtungen aufgebaut, deren Konzepte die Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten umfasste. Heute arbeitet er als freier Berater und Coach für die contec GmbH. Einer seiner Schwerpunkte sind Schulungen für Mitarbeitende über psychiatrische Krankheitsbilder und den Umgang mit herausforderndem Verhalten.

Text: Marie Kramp

Birgitta Neumann

Portrait von Birgitta Neumann, Marktfeldleiterin Eingliederungshilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe, der contec

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