Vergütungsvereinbarungen SGB VIII und IX: Entgelte kalkulieren und verhandeln

Entgeltverhandlungen SGB VIII und IX
Mittwoch, 01 März 2023 09:03

In Zeiten der steigenden Kosten sowie der Umsetzung neuer Angebote im Rahmen von BTHG und KJSG ist eine pauschale Fortschreibung der Entgelte für Leistungserbringer aus den Bereichen des SGB VIII und SGB IX nicht mehr sinnvoll. Wieso das so ist und wie Sie Ihre Entgeltverhandlungen  professionell vorbereiten, haben wir Ihnen bereits in diesem Artikel ausführlich verraten. Heute wollen wir etwas tiefer in die tatsächliche Kalkulation der Entgelte und Durchführung der Entgeltverhandlungen im Rahmen der Vergütungsvereinbarungen in den Bereichen SGB VIII und IX einsteigen. Mit Claudia Hülsemann hat contec sich erst kürzlich in dem Bereich verstärkt, um den Kundenanfragen gerecht zu werden.

Voraussetzungen für erfolgreiche Vergütungsvereinbarungen (SGB VIII und IX)

Um die tatsächlich benötigten Entgelte für die Vergütungsvereinbarung kalkulieren zu können, erfordert es einige Grundvoraussetzungen. Ein Leistungserbringer braucht eine gültige Betriebserlaubnis und eine bestehende Leistungsvereinbarung. Bevor kalkuliert wird, gilt es zu prüfen, ob die Leistungsvereinbarung noch aktuell ist bzw. ob es Änderungen im Leistungsangebot gab, die bei Neuverhandlungen berücksichtigt werden müssen.

Eine weitere wichtige, wenn nicht unabdingliche Voraussetzung: Eine Finanzbuchhaltung nach Kostenstellen. Sie können nur realistisch kalkulieren, wenn

  • die Kosten den entsprechenden Kostenstellen zugeordnet sind und verursachungsgerecht gebucht wurde,
  • alle Bereiche finanziell getrennt sind,
  • die Gemeinkosten richtig aufgeteilt sind

Grundlagen der Kalkulation

Im Bereich der Personalkosten – sofern ein Tarifvertrag zugrunde liegt – sollten die Aufwendungen auf Grundlage dieses Tarifvertrages unter Berücksichtigung der Zulagen für Samstage, Sonntage und Feiertage sowie Nacht und weitere Leistungszulagen wie Jahressonderzahlungen kalkuliert werden. Für Zeiträume, für die noch kein Tarifabschluss vorliegt, erfolgt die Steigerung ebenfalls nach einer zu erwartenden Tarifsteigerung. Liegt kein Tarifvertrag vor, ist die Kalkulation sehr individuell vorzunehmen. Prospektive Personalkosten werden dann auf Basis der aktuellen Personalkosten zzgl. der geplanten Lohnsteigerungen berechnet. Hierbei ist insbesondere die Pflicht zur Zahlung eines angemessenen Zuschlages bzw. zur Gewährung einer angemessen Zahl bezahlter freier Tage gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG für die Nachtarbeit zu beachten.

Die Kalkulation der Sach- und Investitionskosten erfolgt auf Basis der IST-Zahlen. Diese werden durch eine Steigerung ergänzt, der die prospektive Inflationsrate zugrunde gelegt wird (IST-Ausgaben + prospektive Inflationsrate). Was erst einmal plausibel und selbstverständlich klingt, erweist sich in der Praxis schon häufig als Herausforderung: Die Bereitstellung von transparenten und belastbaren Daten. Die Kalkulation hört hier aber noch nicht auf: Da die Entgelte prospektiv verhandelt werden, müssen auch angestrebte konzeptionelle oder bauliche Veränderungen mit eingepreist werden, um zukünftig wirtschaftlich zu handeln. Die Prämisse hierfür ist eine realistische und faktenbasierte Kalkulation, z. B. unter Zuhilfenahme von Kostenvoranschlägen und Angeboten.

Grundsätzlich empfehlen wir, die Entgeltverhandlungen bzw. Vergütungsvereinbarungen in fünf Schritten zu denken: Kalkulation, Aufforderung zur Verhandlung, Verhandlung, Abschluss und Analyse.

Personalkosten kalkulieren: Der größte Kostenfaktor bei Vergütungsverhandlungen

Personalkosten bilden den größten Kostenanteil des Tagessatzes. Sie setzen sich wie folgt zusammen:

  • Leitung
  • Betreuung inkl. Pflege
  • Hauswirtschaft
  • Haustechnik
  • Verwaltung

In unserem Kundenkreis wenden viele Leistungserbringer schon seit Jahren einen Tarifvertrag an. Dennoch gibt es nach wie vor zu viele Leistungserbringer, die noch nach sogenannten „Haustarifverträgen“ vergüten oder individuelle Arbeitsentgelte mit ihren Mitarbeitenden vereinbaren. Haustarifverträge oder individuell verhandelte Vergütungen liegen oft unter den Tarifentgelten und deshalb raten wir davon ab, diese Form der Vergütung zu wählen bzw. zeitnah auf eine faire tarifliche Vergütung umzustellen. Ein Vorteil: Anerkannte Tarife und deren Steigerungen müssen akzeptiert werden, während Haustarife im Einzelfall Verhandlungssache sind. Ein fairer Tarif kann darüber hinaus die Arbeitgeberattraktivität steigern und ist somit ein gutes Mittel im Wettbewerb um Fachkräfte.

Sollten Sie auf tarifliche Vergütung umstellen wollen, sprechen Sie uns gern an. Wir unterstützen Sie bei der Wahl des passenden Tarifwerks und bei der Umstellung und Eingruppierung Ihrer Mitarbeitenden.

Sach- und Investitionskosten – Ein Überblick

Den kleineren Anteil des Tagessatzes bilden die Sach- und Investitionskosten, was keineswegs heißt, dass diese in der Kalkulation vernachlässigt werden dürften – im Gegenteil. Hier schlummern bei falscher Kalkulation deutliche Risiken bzw. bei guter Berechnung hohe Potenziale. Sachkosten beinhalten folgende Positionen:

  • Lebensmittel
  • Steuern, Abgaben, Versicherungen
  • Verbandsbeiträge
  • Energie, Wasser, Brennstoffe
  • Wirtschaftsbedarf
  • Verwaltungsbedarf
  • Sonstige Aufwendungen
  • Sonderkosten für Betreute
  • Lernmittel
  • Wartung

Die Investitionskosten setzen sich wie folgt zusammen:

  • Zinsen für Eigen- und Fremdkapital
  • Tilgung von Darlehen
  • Aufwendungen für Miete und Leasing
  • Pacht und Erbbauzinsen
  • Abschreibungen
  • Instandhaltungskosten

 

Unser Tipp: Im Bereich der Jugendhilfe sollten Sie im Rahmen der Entgeltverhandlung auch die Bettengeldtage überprüfen. In der Regel gibt der Landesrahmenvertrag eine gewisse Anzahl an Bettengeldtagen vor. Diese sind aufgrund des Ziels der Rückführung in die Ursprungsfamilie (§37 Abs. 1 SGB VIII) und der damit verbundenen Abwesenheitszeiten häufig nicht auskömmlich und sollten Bestandteil der Entgeltverhandlung sein.

Aufforderung zur Verhandlung und Kontakt zum Leistungsträger

Sobald Sie Ihre benötigten Entgelte erfolgreich kalkuliert haben, ist ein erster wichtiger Schritt zum wirtschaftlichen Handeln getan. Die eigentliche Verhandlung mit den Leistungsträgern ist der zweite Schritt und auch hier gibt es einiges zu beachten. Sie müssen die zuständigen Leistungsträger schriftlich zur Verhandlung auffordern. Für die Aufforderung in der Kinder- und Jugendhilfe gibt es eine Sechs-Wochen-Frist, in der Eingliederungshilfe beträgt die Frist drei Monate.

Unser Tipp: Wir empfehlen Einrichtungen, die bislang pauschal fortgeschrieben haben und wenig Verhandlungserfahrung sammeln konnten, eine vorherige Kontaktaufnahme mit dem Leistungsträger. In solch einem Gespräch können Sie eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Verhandlung schaffen. Die Parteien können sich kennenlernen, ohne dass eine (eventuell sehr hohe) Forderung seitens des Leistungserbringers dazwischensteht und das Verhältnis direkt zu belasten droht. Des Weiteren können bereits erste Eckpunkte erörtert werden. Hierzu zählt z. B. die Einführung der Gehälter nach Tarif, Neubauprojekte, Änderung der Leistungsvereinbarung oder ähnliches.

Verhandlungen im Rahmen von Vergütungsvereinbarungen

Ihre Aufforderung verpflichtet die Leistungsträger zu einer Verhandlung. Der erste Verhandlungstermin muss von beiden Seiten zeitnah vereinbart werden, um vor Ablauf der Vergütungsvereinbarung einen neuen Tagessatz festzulegen. Das Ziel ist es, eine Einigung innerhalb von sechs Wochen in der Kinder- und Jugendhilfe (§ 78g SGB VIII) und binnen drei Monaten in der Eingliederungshilfe (§ 125 SGB IX) nach Aufforderung zu erreichen.

Die Verhandlung kann auf unterschiedlichen Wegen stattfinden – auch per Mail, Telefon oder Videokonferenz. Das seit ein paar Jahren beliebte Format eignet sich insbesondere bei unkritischen Verhandlungen, also z. B. dann, wenn ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Parteien besteht und die kalkulierten Entgelte nicht unerwartet hoch ausfallen. Termine, die vor Ort stattfinden, binden zwar mehr Kapazitäten auf beiden Seiten, allerdings ermöglicht der persönliche Austausch häufig eine bessere Verhandlungsbasis. Gerade bei herausfordernden Entgeltverhandlungen empfehlen wir Vor-Ort-Termine.

Zu Beginn des ersten Verhandlungstermins werden die Eckdaten geklärt und der Leistungsträger gibt ein erstes Angebot ab. Da die kommunale Finanzlage stark angespannt ist, wird dieses Angebot sicherlich nicht im Rahmen der Aufforderung sein. In der Regel orientiert sich das Erstangebot an der Inflationsrate. Abgesehen von der ohnehin historisch hohen Inflationsrate bildet dieses Vorgehen in der Regel nicht die tatsächlich benötigte Steigerung ab. Sofern die letzte Verhandlung schon einige Jahre zurück liegt, deckt diese erste angebotene Steigerung häufig nicht einmal die IST-Kosten des vergangenen Jahres ab.

Deshalb benötigt es im Folgenden einiges an Erfahrung und auch Verhandlungsgeschick, um mit dieser Situation umzugehen und die Verhandlung positiv weiterzuführen. In der Regel braucht es mehrere Runden oder eventuell auch weitere Verhandlungstage, um das gewünschte Ziel, ein zufriedenstellendes Ergebnis, zu erreichen.

Schiedsstelle: Der letzte Ausweg

Sollte keine Einigung für eine Vergütungsvereinbarung erzielt werden, haben Sie die Möglichkeit, die Schiedsstelle anzurufen. Doch Vorsicht: Dieser Schritt muss sehr gut überlegt sein und sollte nur in Härtefällen gegangen werden, in denen das Angebot des Leistungsträgers nicht hinnehmbar ist. Häufig wird die Schiedsstelle dann eingebunden, wenn die wirtschaftliche Lage der Einrichtung in Gefahr ist. Beim Abwägen der Vor- und Nachteile ist für zukünftige Verhandlungen zu beachten, dass ein Schiedsstellenverfahren – auch wenn ein Recht darauf besteht – einen großen Einfluss auf den Verhandlungsverlauf haben kann, und zwar in beide Richtungen, sowohl negativ als auch positiv (jeweils im Sinne des Leistungserbringers). Außerdem ziehen sich solche Verfahren oftmals lange hin. Unsere Verhandlungsstrategie setzt deshalb zunächst darauf, ohne Schiedsstelle eine Einigung zu erzielen, die für beide Seiten vertretbar und für den Leistungserbringer auskömmlich ist. Ein zu häufiges Anrufen der Schiedsstelle kann das Verhältnis zu stark belasten und damit hat langfristig keine Seite etwas gewonnen.

Dennoch raten wir nicht grundsätzlich davon ab, den Gang vor die Schiedsstelle zu wagen, insbesondere dann, wenn die Wirtschaftlichkeit gefährdet ist. Tatsächlich können erfolgreiche Verfahren zu Präzedenzfällen werden, die die Zukunft der Entgeltverhandlungen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe nachhaltig beeinflussen können. Aber es bleibt dabei: Es gilt im Einzelfall abzuwägen und die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs mitzudenken.

Am Ende der erfolgreichen Entgeltverhandlungen sollten Sie das Ergebnis und den Verlauf analysieren, um aus den Erfahrungen Erkenntnisse zu generieren und sich damit noch besser auf die kommenden Entgeltverhandlungen vorzubereiten.

Text: Claudia Hülsemann/Marie Kramp
Titelbild: © Image Source

Claudia Hülsemann

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