Truck der Digitalisierung – Tools für gesundes Arbeiten in der Sozialwirtschaft

Freitag, 29 April 2022 12:00

Wie gesundes Arbeiten in der Sozialwirtschaft dank digitaler Assistenzsysteme aussehen kann, können Mitarbeitende in sozialen Einrichtungen jetzt selbst testen: Der Truck der Digitalisierung, kurz TruDi, der aus dem Projekt pulsnetz KI hervorgeht, bringt moderne Technologien direkt zu den Beschäftigten in Pflege, Kinderbetreuung und Sozialberatung. Diana Herrmann und Steffen Schumann von der contec GmbH sind als Expert*innen für Digitalisierung und digitale Pflege seit März mit dem Truck in Berlin und NRW unterwegs. Sie haben uns von dem Projekt und ersten Erfahrungen in den Einrichtungen erzählt.

Herr Schumann, Frau Herrmann, was steckt hinter dem Projekt „Truck der Digitalisierung“ (kurz: TruDi)? Und wie sieht ein Tag mit Ihnen und TruDi in einer sozialen Einrichtung aus?

Steffen Schumann: Wenn wir mit TruDi unterwegs sind, bringen wir innovative Technologien für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft mit, die von Mitarbeitenden der Einrichtungen vor Ort kostenlos in kleinen Gruppen getestet werden können. Begleitend gibt es Workshops, in denen wir gemeinsam herausfinden wollen, wo die Herausforderungen der einzelnen Einrichtungen liegen und welche (digitalen) Lösungen dazu passen könnten. Im Zentrum steht das Ziel, Wege zu finden, die die Mitarbeitenden bei ihren alltäglichen Aufgaben entlasten.

Diana Herrmann: Unsere Beratungen in den Einrichtungen dauern sechs Stunden. Wir beginnen mit dem Workshop, dann gehen wir zu TruDi und stellen die digitalen Assistenzsysteme dort vor. Die Teilnehmer*innen dürfen TruDi drei Stunden lang erkunden – wir sind natürlich als Ansprechpartner*innen immer dabei. Neben Pflegekräften, Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen beteiligen sich auch Mitarbeitende anderer Bereiche, z. B. Beschäftigte aus der IT-Abteilung, der Verwaltung und auch Führungskräfte der Einrichtungen. Die Tovertafel (zu Deutsch: Zaubertafel) ist unser „Eisbrecher“, mit dem wir meistens in die Phase des Ausprobierens starten. Sie projiziert Spiele auf eine Fläche und reagiert auf Bewegungen. Die Nutzer*innen, in der Praxis z. B. Pflegebedürftige, können gemeinsam einen virtuellen Geburtstagskuchen backen, puzzeln oder virtuell einen Drachen steigen lassen. Am Ende sprechen wir darüber, wie die Teilnehmer*innen die digitalen Anwendungen erlebt haben. Es gibt aber auch die Möglichkeit, TruDi stundenweise für exploratorische Beratungen zu buchen und den Truck ohne Workshop und Nachbesprechung zu erkunden.

Welche digitalen Tools gehören zum Inventar Ihres Trucks und nach welchen Kriterien haben Sie diese ausgesucht?

Diana Herrmann und Steffen Schumann,
Organisationsberater der contec.

Schumann: Wir haben eine große Auswahl an Assistenzsystemen an Bord – von Pflegesoftware über Virtual Reality bis hin zu Robotern ist alles dabei. Eines der beliebten Tools ist z. B. der ichó-Ball, ein interaktiver Therapieball zur Aktivierung und Förderung, u. a. von Menschen mit Demenz oder Behinderung. Zur Ausstattung gehören aber auch Exoskelette, VR-Brillen, die smarte Pflegebrille 2.0 und viele weitere innovative Tools.

Herrmann: Die Praktikabilität und der tatsächliche Nutzen im Alltag gehören zu den wichtigsten Merkmalen, auf die wir bei der Auswahl der digitalen Anwendungen geachtet haben. Manche Hightech-Geräte mögen auf den ersten Blick beeindrucken, stellen sich in der praktischen Anwendung aber als viel zu kompliziert und daher nicht praktikabel heraus. Andere Systeme sind außerhalb der Pflegepraxis entstanden und erweisen sich deshalb als im Alltag kaum nutzbar. Bei der Auswahl habe ich auch meine eigene praktische Erfahrung aus der Altenpflege immer zugrunde gelegt.

Wie kommen die innovativen Produkte in den Einrichtungen an? Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

Herrmann: Wir erleben bisher, dass besonders das Ausprobieren und Erkunden des Trucks und der mitgebrachten Tools gut ankommt. Zudem sind wir vor Ort und immer dabei, wenn Fragen oder Ideen aufkommen und können direkt in einen spannenden Austausch einsteigen.

Es geht bei uns auch darum, zu erforschen, welche Möglichkeiten der Entlastung es durch digitale Assistenzsysteme gibt. Oft kommt es dann zu einem „Aha-Effekt“ bei den Beteiligten, weil TruDi ihnen ganz neue Anreize für den Umgang mit unterschiedlichen Herausforderungen bietet. Sehr interessant ist es beispielsweise, wenn Mitarbeitende der Einrichtungen eines der Exoskelette anziehen und am eigenen Körper gesunde Trage- und Hebetechniken austesten – sie können sich so selbst ein Bild davon machen, inwiefern das Produkt zur eigenen körperlichen Entlastung bei der Arbeit mit Pflegebedürftigen beitragen kann. Der ichó-Ball mit seinen vielen spielerischen Anwendungsmöglichkeiten wird von Bewohner*innen sozialer Einrichtungen meist richtig gut aufgenommen – ihre Begeisterung steckt dann auch die Mitarbeitenden an.

Mit welcher Intention gehen Sie denn in die Einrichtungen? Was ist das Ziel der Beratungen und Workshops und wie fügt sich das in den größeren Rahmen des Projekts pulsnetz KI ein, das TruDi auf den Weg gebracht hat?

Schumann: Wir kommen mit neuen Ideen in die Einrichtungen, die wir den Mitarbeitenden mit auf ihren Weg geben wollen. Unser Ziel ist es, Denkprozesse zur Lösungsfindung in Gang zu setzen und einen Austausch anzuregen. Es kann sein, dass eines oder mehrere der vorgestellten innovativen Produkte Teil der Lösung sind, aber zunächst ist es wichtig, dass Einrichtungen gemeinsam mit den Mitarbeitenden überlegen, was sie zur Entlastung brauchen.

Herrmann: Das Ziel von pulsnetz KI ist es, den Berufsalltag in der Sozialwirtschaft so zu gestalten, dass gesundes Arbeiten möglich ist. Dieses Thema steht auch über TruDi: Was können Einrichtungen tun, damit ihre Mitarbeitenden gesund und sicher arbeiten können? Digitale Assistenzsysteme können einen Beitrag dazu leisten, die Mitarbeitenden zu entlasten – sie müssen aber auch nicht immer die Antwort sein. Wenn sie sinnvoll genutzt werden sollen, ist es wichtig, gleichzeitig einen entsprechenden Prozess in der Organisation zu hinterlegen bzw. bestehende Prozesse anzupassen.

Wie könnte ein solcher Prozess aussehen bzw. welche Rolle spielen Prozesse bei der Einbindung innovativer Technologien in soziale Einrichtungen?

Herrmann: Es geht nicht darum, willkürlich digitale Helferlein zu kaufen und in die Einrichtungen zu legen – die waren im schlimmsten Fall teuer, aber werden nicht genutzt, weil keiner weiß, wie. Was wirklich zählt, ist, dass man sich vorher Gedanken darüber macht, wie diese Technologien tatsächlich eingebunden und genutzt werden können, also: Mit welchem Ziel für die Pflegenden und Pflegebedürftigen soll das Tool eingesetzt werden? ichó-Ball, Tovertafel, Luka-Eule: Das alles sind Tools, die man z. B. anwenden kann, um darüber in Kommunikation zu treten, als Gedächtnistrainer oder für die Biografiearbeit. Die Luka-Eule liest Bücher vor und kann von Angehörigen besprochen werden – das funktioniert auch für persönliche Fotoalben mit Hinweisen auf die abgebildeten Personen und Orte. Richtig eingesetzt ist das Tool nicht einfach ein „nettes Spielzeug“, sondern kann Menschen mit kognitiven Herausforderungen aktivieren und fördern. Solche digitalen Anwendungen können dann auch einen großen Beitrag zur Entlastung des Pflegepersonals leisten, denn – und das muss man sich wirklich bewusst machen: Gut betreut ist halb gepflegt! Wenn Menschen mit hochwertigen Angeboten ausreichend betreut werden, dann suchen Sie seltener die Beschäftigung und persönliche Ansprache des Pflegepersonals. Einrichtungen sollten sich also vorher Gedanken machen und einen Plan aufstellen: Wann wird das Tool benutzt? Mit welcher Personengruppe? Wer führt die Aktivität durch? In welchem Umfang wird das Tool genutzt?

Was nehmen Sie als besondere Herausforderungen in den Einrichtungen wahr?

Schumann: Wir erleben, dass es immer noch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz digitaler Assistenzsysteme bei Trägern der Sozialwirtschaft gibt. In der Branche geht es in erster Linie um die Betreuung von Menschen und es ist für viele schwer vorstellbar, dafür z. B. Roboter einzusetzen. Dazu sage ich ganz klar: Es geht bei der Digitalisierung nicht darum, zwischenmenschliche Interaktion vollständig durch Technologie zu ersetzen. Es geht vielmehr darum, dass die Mitarbeitenden mehr Zeit für die Interaktion mit den Bewohner*innen haben, weil die Technik ihnen Routineaufgaben abnimmt. Nehmen wir zum Vergleich einmal das alltägliche Beispiel des Staubsaugerroboters: Er nimmt uns als „Assistent“ eine Routineaufgabe ab, die wir nicht unbedingt persönlich ausführen müssen. Dank dieser digitalen Anwendung sparen wir also Zeit und können uns auf etwas anderes konzentrieren. Genauso ist es auch mit digitalen Assistenzsystemen in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft – sie übernehmen kleinere Nebentätigkeiten, damit sich die Mitarbeitenden auf den wichtigsten Aspekt ihrer Arbeit konzentrieren können: den Menschen.

Herrmann: Die Pflegebrille 2.0 ist ein gutes Beispiel dafür, wie Pflegekräfte durch innovative Technologien im Berufsalltag unterstützt werden können: Der Träger der Brille kann die eigene Sicht über eine eingebaute Kamera live an eine andere Person übertragen. So kann diese nicht nur die Handgriffe der Pflegenden verfolgen, sondern auch direkt Tipps und Hinweise geben. Es lassen sich auch Anleitungen beispielsweise für das sterile Wechseln von Handschuhen abrufen, ohne dass die Pflegekraft die Pflegebedürftigen dabei aus den Augen lassen muss. Die Brille kann also u. a. in der Pflegeausbildung eingesetzt werden oder als Unterstützung für frisch eingearbeitete Pflegekräfte, die noch unsicher bezüglich bestimmter Arbeitsabläufe sind. Das ist in der Praxis sehr hilfreich – besonders mit Blick auf den Personalmangel. Dennoch befürchten manche, die Brille solle die gesamte Pflegeausbildung ersetzen – das ist natürlich nicht so, auch hier geht es lediglich um Assistenz und Entlastung.

Gibt es noch etwas, das Sie Einrichtungen, die sich für einen Workshop mit TruDi interessieren, mit auf den Weg geben möchten?

Herrmann: Wir haben nicht die perfekte Lösung – die gibt es auch nicht. Die Probleme in einer Einrichtung sind immer ein Zusammenspiel aus den Herausforderungen der Pflegenden und der Pflegebedürftigen vor Ort – und damit immer auch individuell zu betrachten. TruDi soll Menschen dazu bewegen, miteinander über diese Herausforderungen und Bedarfe zu kommunizieren. Wir freuen uns schon auf die weiteren Stopps, sind gespannt auf die Gespräche und Impulse und laden Einrichtungen der Sozialwirtschaft weiterhin ein, TruDi zu buchen und das kostenfreie Angebot zu nutzen.

Hier können Sie einen Besuch von TruDi kostenfrei für Ihre Einrichtung buchen.

 Das Projekt pulsnetz KI

Im Projekt Regionales Zukunftszentrum KI „pulsnetz.de – gesund arbeiten“ (pulsnetz KI), das im Rahmen des Programms „Zukunftszentren KI“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert wird, kooperiert die contec GmbH mit weiteren Partnern unter der Projektleitung der Diakonie Baden. Dabei dreht sich alles um die Anwendung digitaler und KI-gestützter Assistenzsysteme zur Entlastung und Stärkung von Pflegekräften, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Führungskräften der Sozialwirtschaft. Im Rahmen der TruDi-Roadshow fahren insgesamt drei Trucks durch vier Bundesländer: Baden-Württemberg (Diakonie Baden), Bayern (Hochschule Hof), Berlin und Nordrhein-Westfalen (contec GmbH). Das Projekt ermöglicht es Beschäftigten der Sozialwirtschaft, den Umgang mit digitalen und technischen Anwendungen zu lernen und zu erproben.

Redaktion: Katharina Ommerborn

Diana Herrmann

Portrait von Diana Herrmann, Management- und Organisationsberaterin, der contec

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